Weihnachten in Hanoi – Zwischen Kirchenchor und Straßenchaos

Autor: Torsten Matzak

Unsere Reisenotizen
Nr. 11-10/2025

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Ein Fest im Dazwischen

Der Dezember hat in Hanoi seinen eigenen Geruch. Eine Mischung aus Staub, kaltem Holzrauch und der süßen Schärfe von Straßenküchen, die an jeder Ecke dampfen. Es ist Winter in Nordvietnam, eine Jahreszeit, die den Tropen fremd bleibt, aber sich doch leise hereinschleicht – in Form von Nebel über den Dächern der Altstadt, von grauen Vormittagen und einem Wind, der die Motorrollerfahrer frieren lässt. Auf den Straßen leuchten Plastiktannen in giftigem Grün, auf Hausfassaden hängen Lichterketten in Schneeflockenform, und an der Kreuzung vor der St.-Josephs-Kathedrale schiebt sich eine Menschenmenge, dicht, laut, staunend, hin zu jenem Gebäude, das für viele Vietnamesen das Symbol des westlichen Weihnachtswunders geworden ist.

Hier, im Herzen Hanois, unweit des Hoàn-Kiếm-Sees, steht sie: die Kathedrale von Hanoi, 1886 geweiht, gebaut auf den Ruinen einer alten Pagode, im neogotischen Stil französischer Missionare. In diesen Tagen ist sie das Zentrum einer eigentümlichen Szenerie. Draußen: ein Meer aus Mopeds, blinkenden Rentiergeweihen, Plastiknikoläusen und Selfie-Sticks. Drinnen: der Chor der Gläubigen, Stimmen, die sich an den gotischen Bögen brechen, Kerzenlicht und der Klang einer fremden Sprache – Latein, das über Jahrhunderte hinweg sein Echo nach Asien getragen hat.

Weihnachten in Hanoi ist ein Paradox. Es ist ein Fest, das nur eine Minderheit feiert, und doch eine ganze Stadt bewegt. Ein Import aus Europa, der längst zu einem vietnamesischen Stadtphänomen geworden ist. Vielleicht, weil es in einer Gesellschaft, die sonst so eng mit Familie, Pflicht und Alltag verwoben ist, einen seltenen Moment des Spektakels bietet. Vielleicht, weil die Lichter und Klänge der westlichen Moderne in Hanoi seit jeher mit einer eigentümlichen Sehnsucht verbunden sind – einem Wunsch nach Weltläufigkeit, nach einer anderen Art der Wärme.

Das Erbe der Missionare

Um zu verstehen, warum die Hauptstadt Vietnams sich jedes Jahr im Dezember in ein halbes Wintermärchen verwandelt, muss man weit zurückgehen – in die Zeit, als französische Missionare das Land betraten, lange bevor Hanoi Hauptstadt der Republik wurde. Schon im 17. Jahrhundert erreichten Jesuiten und Dominikaner die Küsten des damaligen Đại Việt. Einer der bekanntesten war Alexandre de Rhodes, ein französischer Jesuit, der nicht nur das Christentum verbreitete, sondern auch die Grundlage der heutigen vietnamesischen Schriftsprache schuf: das lateinische Alphabet, quc ng.

Sein Werk war mehr als Mission. Es war eine kulturelle Revolution. Denn die neue Schrift machte aus einem ideographischen System ein lautbasiertes – und damit den Zugang zur Bildung breiter. Mit ihr kam nicht nur das Evangelium, sondern auch eine neue Ordnung von Denken und Schreiben, eine westliche. Doch der Preis war hoch: Im 19. Jahrhundert verband sich die Mission mit Kolonialherrschaft. Unter französischer Verwaltung wurde das Christentum zur Staatsreligion der Kolonialmacht, und Katholiken, vor allem im Norden, genossen Privilegien.

Diese doppelte Erbschaft – Bildung und Bevormundung, Fortschritt und Fremdherrschaft – haftet dem Christentum in Vietnam bis heute an. Während rund 7 bis 8 Prozent der Vietnamesen katholisch sind, lebt der Rest in einem synkretistischen Geflecht aus Buddhismus, Konfuzianismus, Ahnenkult und moderner Sinnsuche. Weihnachten ist daher kein religiöses, sondern ein gesellschaftliches Ereignis – eine Gelegenheit, Teil einer globalen Erzählung zu sein.

Die Stadt als Bühne

An einem Dezemberabend verwandelt sich Hanoi in ein Kaleidoskop aus Licht. Entlang der Phố Nhà Thờ, der Straße, die zur Kathedrale führt, hängen Girlanden aus roten und goldenen Sternen, auf den Gehwegen verkaufen Händler blinkende Nikolausmützen, und junge Paare posieren unter aufblasbaren Schneemännern. Für viele ist das kein religiöses Symbol, sondern schlicht ein Moment des Glanzes.

Die Läden, die sonst Obst, Räucherstäbchen oder Reisschalen verkaufen, stapeln jetzt Plastikbäume, Engelsfiguren und batteriebetriebene Kerzen. Ein ganzer saisonaler Mikrokosmos ist entstanden – ein Markt für künstliche Romantik. Dabei hat sich eine eigene Ästhetik des vietnamesischen Weihnachtsfests herausgebildet: bunter, greller, übervoll. Ein Weihnachtsbaum in Hanoi ist kein stilles Symbol der Hoffnung, sondern eine Explosion aus Farbe, Licht und Bewegung.

Diese Überschäumung hat ihren eigenen Reiz. Während man im Westen die Reduktion, das Authentische, das Natürliche sucht, feiert man hier das Gegenteil: die Fülle. Wo sonst der Alltag sparsam, diszipliniert und von Regeln bestimmt ist, darf im Dezember alles glitzern. Der Festschmuck in den Straßen von Hanoi ist eine Bühne für Selbstinszenierung – für eine Gesellschaft, die sich seit Jahrzehnten in rasantem Wandel befindet.

Religion im Schatten der Geschichte

Das Verhältnis Vietnams zur Religion ist kompliziert. Nach dem Sieg der Kommunisten 1975 und der Wiedervereinigung des Landes stand Religion unter strenger Kontrolle. Christliche Feiertage galten als Relikt westlicher Kultur, die Kirche als potenzielle Bedrohung für die Einheit des sozialistischen Staates. Erst in den 1990er Jahren, mit der wirtschaftlichen Öffnung (Đi Mi), änderte sich das. Seither erlebt Vietnam eine vorsichtige Wiederzulassung religiöser Vielfalt – und mit ihr auch eine Renaissance kirchlicher Rituale.

Heute füllen sich an Heiligabend die Kirchen Hanois bis auf den letzten Platz. Katholiken aus der Stadt, aus den Dörfern im Umland, sogar aus entlegenen Provinzen strömen in die Hauptstadt, um gemeinsam die Christmette zu feiern. Vor der St.-Josephs-Kathedrale werden Bildschirme aufgebaut, um den Gottesdienst nach draußen zu übertragen. Der Chor singt in vietnamesischer Sprache, aber die Melodien sind westlich: Adeste Fideles, Stille Nacht, O Come All Ye Faithful.

Doch auch wer nicht glaubt, bleibt stehen. Kinder klettern auf die Schultern ihrer Eltern, Jugendliche filmen mit dem Handy, Touristen drängen sich zwischen Einheimischen. Das Spektakel wird zum Volksfest. Es ist, als hätte das Christentum in Vietnam seine eigenen, säkularen Formen gefunden: weniger Dogma, mehr Gemeinschaft.

Die stillen Räume hinter dem Lärm

Abseits der großen Straßen liegt das Hanoi der alten Viertel – enge Gassen, kleine Werkstätten, der Duft von Phở-Suppe und Kaffee. In diesen stilleren Winkeln bereiten sich die katholischen Familien auf ihr Weihnachtsfest vor. In vielen Häusern steht eine Krippe aus Bambus, manchmal handgeschnitzt, mit winzigen Figuren aus Ton. Auf den Balkonen hängen bunte Lichterketten, in den Wohnzimmern kleine Plastikbäume, die von Generation zu Generation weitergereicht werden.

Weihnachten ist hier kein Konsumrausch, sondern ein Familienfest. Nach der Messe versammeln sich Verwandte, teilen Reisgerichte, gegrilltes Fleisch, singen gemeinsam. Kinder bekommen kleine Geschenke – meist etwas Praktisches: neue Kleidung, Schulutensilien. Der Weihnachtsmann, Ông Già Noel, ist eine neuere Erscheinung, eine Mischung aus amerikanischem Mythos und asiatischer Heiterkeit.

In Gesprächen wird spürbar, wie Weihnachten für viele Vietnamesen eine doppelte Bedeutung trägt: als religiöses Bekenntnis, aber auch als Moment des Ankommens in einer modernen Welt. Die Kirche bietet Struktur in einer Gesellschaft, die sich immer schneller verändert. Sie ist ein Ort der Zugehörigkeit, nicht der Abgrenzung.

Ein Fest im Übergang

Weihnachten in Hanoi ist weder rein religiös noch bloß dekorativ. Es ist ein Spiegelbild des modernen Vietnam – eines Landes, das sich zwischen Tradition und Globalisierung neu erfindet. Die Straßen voller Plastikschnee erzählen von der Sehnsucht nach Schönheit, die Kathedrale vom langen Schatten der Geschichte, und die Gesichter der Kinder, die vor der Krippe lachen, von einer Zukunft, die sich nicht mehr in Ost und West teilen lässt.

Wenn kurz vor Mitternacht die Glocken der Kathedrale läuten, hält die Stadt für einen Augenblick den Atem an. Dann brechen wieder Motorenlärm und Stimmengewirr los, Feuerwerkskörper zischen in den Himmel, und die Nacht ist erfüllt von einem Lächeln, das zugleich fremd und vertraut ist. Weihnachten in Hanoi ist keine Kopie. Es ist ein Fest, das sich neu erfunden hat – aus Fragmenten der Geschichte, aus der Hoffnung auf Glanz, aus der schlichten Freude, dass auch in einer tropischen Stadt das Licht des Winters seinen Platz gefunden hat.

Das Leuchten der Stadt

Wenn die Dämmerung über Hanoi fällt, verwandelt sich die Stadt. Der graue Schleier des Tages – der Staub, der Lärm, die endlosen Reihen von Motorrollern – scheint für ein paar Stunden aufgehoben. Die Lichter gehen an, nicht die warmen Glühbirnen der alten Kolonialhäuser, sondern ein neues, fieberndes Licht: LED-Ketten in Blau, Lila und Pink. Sie blinken an Balkonen, über Eingängen, zwischen Strommasten, selbst an den Seiten kleiner Garküchen. In den Tagen vor Weihnachten liegt über der Stadt ein elektrischer Zauber, unruhig und grell, aber von eigentümlicher Schönheit.

Die Straße Hàng Mã im Altstadtviertel ist das Zentrum dieses Lichterrausches. Früher verkaufte man hier Papieropfer für die Ahnen, kleine Häuser, Boote, Tiere aus bunt bedrucktem Papier, die man verbrennt, um sie den Verstorbenen ins Jenseits zu schicken. Heute stapeln sich dort rote Weihnachtsmützen, glitzernde Sterne, Plastikbäume und Kartons mit Aufdruck „Made in China“. Der Wandel dieser Straße erzählt in Miniatur, was mit Vietnam insgesamt geschah: aus einer Gesellschaft, die Rituale pflegte, wurde eine, die sie neu erfindet – oft auf dem Markt.

Die Händlerinnen lachen, wenn man sie nach der Bedeutung der Lichter fragt. „Weihnachten? Nein, das ist Geschäft“, sagt eine Frau Mitte fünfzig, während sie künstlichen Schnee auf einen Plastikbaum sprüht. „Aber die Kinder mögen es. Und die jungen Leute – sie kommen alle her, um Fotos zu machen.“

Und sie hat recht. Gegen Abend füllt sich die Straße mit Jugendlichen. Sie tragen rote Mützen, Rentiere auf Haarreifen, manchmal sogar ganze Kostüme. In der Hand das Handy, immer bereit zum Foto. Hanoi ist in diesen Tagen ein einziges Freiluft-Fotostudio. Vor der Kathedrale, auf dem Platz vor dem Opera House, entlang des Westsees – überall posieren junge Menschen vor blinkenden Kulissen. Der Weihnachtsbaum ist nicht Symbol, sondern Hintergrund, das Selfie das eigentliche Ritual.

Doch wer genau hinsieht, erkennt in diesem Spiel mehr als bloße Pose. Die jungen Vietnamesen, aufgewachsen in einer Zeit des Wohlstands und der digitalen Offenheit, suchen in diesen Momenten auch Zugehörigkeit – zu einer Welt, die lange unerreichbar schien. Das westliche Weihnachten, das über Werbung, Filme und Internetbilder in ihr Bewusstsein drang, steht für Glamour, Zärtlichkeit, ein Leben ohne Sorgen. Vielleicht ist es diese Vorstellung, die in Hanoi jedes Jahr aufs Neue aufgeführt wird: die Idee, Teil einer globalen Feier zu sein.

Ein anderer Winter

Die Temperaturen fallen selten unter fünfzehn Grad, doch im Dezember trägt man in Hanoi Mäntel. Nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Stimmung. Es ist eine performte Kälte, eine Inszenierung des Winters, wie man ihn aus Fernsehbildern kennt. Cafés bieten „Christmas Coffee“ mit Zimt und Sahne, in den Hotels spielen Lautsprecher „Jingle Bells“, und in den Schaufenstern von Vincom Plaza oder Trang Tiên Plaza hängen Schneeflocken aus Styropor.

An der Ecke Phan Bội Châu, vor einer Bäckerei, steht ein aufblasbarer Schneemann in der tropischen Nacht. Kinder lachen, greifen nach seinen weißen Armen, während ihre Eltern mit dem Handy filmen. Das Künstliche hat hier nichts Lächerliches. Es ist Einladung zum Staunen.

Viele dieser Bilder stammen aus importierten Dekorationen, doch Hanoi hat begonnen, sie sich anzueignen. In den vergangenen Jahren entstanden in den katholischen Vierteln des Nordens – etwa in Nam Định oder Ninh Bình – ganze „Weihnachtsdörfer“. Dort wetteifern Gemeinden um die größte Krippe, die hellste Beleuchtung, die originellste Gestaltung. Ganze Straßenzüge erstrahlen in Lichtermeeren, Häuserfronten verwandeln sich in Kulissen.

Was im Westen als Überfluss gälte, ist hier Ausdruck kollektiver Freude. Der Stromverbrauch steigt in diesen Nächten drastisch, aber niemand scheint sich daran zu stören. Denn Weihnachten, das einmal ein Zeichen kolonialer Fremdheit war, ist zu einem Fest des Zusammenhalts geworden – selbst für jene, die nicht glauben.

Zwischen Staat und Spektakel

Offiziell ist Weihnachten in Vietnam kein Feiertag. Schulen bleiben geöffnet, Behörden arbeiten, das öffentliche Leben läuft weiter. Und doch duldet – ja, fördert – der Staat die Feierlichkeiten. Sie sind ein Zeichen der Öffnung, ein Symbol für Modernität. Die Tourismusbehörde nutzt sie gern für Werbekampagnen: „Hanoi – where East meets Christmas“.

In den Kirchenvierteln genehmigen die Behörden Straßenabsperrungen, unterstützen Logistik und Sicherheit. Eine stille Übereinkunft: Die Kirche predigt keine Politik, der Staat erlaubt den Glanz. So entsteht jedes Jahr ein gesellschaftliches Ventil, in dem Frömmigkeit, Konsum und Patriotismus auf erstaunliche Weise koexistieren.

Wer in diesen Tagen durch das Viertel um die Kathedrale geht, spürt diese eigentümliche Mischung. Aus Lautsprechern erklingt Weihnachtsmusik, Kinder tanzen in Schuluniformen, daneben verkaufen Straßenhändler Zuckerrohrsaft. Über den Köpfen wehen vietnamesische Fahnen. Alles ist gleichzeitig – Religion, Staat, Geschäft, Fest.

Ein globales Ritual im lokalen Gewand

Weihnachten in Hanoi ist eine Inszenierung der Moderne – eine Bühne, auf der das Land sich selbst betrachtet. Es ist nicht Ausdruck von Glauben, sondern von Wandel. Schon die Soziologin Nguyn Th Minh Ngc beschrieb in einer Studie von 2018, dass „Weihnachten in Vietnam ein soziales Ritual geworden ist, das weniger religiöse als ästhetische Bedürfnisse erfüllt.“ Sie nennt es ein „Fest des urbanen Individualismus“.

Dieser Individualismus ist jung. Noch in den 1980er-Jahren war Hanoi eine graue Stadt, in der Privates und Öffentliches kaum zu trennen waren. Heute haben Mode, Lifestyle und Freizeit ihren festen Platz. Das westliche Weihnachten bot die passende Symbolik: Licht im Dunkel, Wärme im Winter, Liebe in der Stadt.

Die vietnamesische Version hat das Pathos verloren, das in Europa oft mitschwingt. Statt Besinnlichkeit herrscht Lebendigkeit. Statt Stille: Lärm. Und vielleicht ist gerade das ihre Authentizität. Denn in einer Stadt, die niemals zur Ruhe kommt, kann auch ein christliches Fest nur überleben, wenn es lärmt.

Die Wirtschaft des Glitzerns

Weihnachten ist auch Geschäft – und das wissen alle. Schon im Oktober beginnen die Händler mit der Dekoration, Hotels buchen Weihnachtsdinner, Einkaufszentren veranstalten Lotterien. Die großen internationalen Ketten – von Starbucks bis H&M – schmücken ihre Filialen mit Lichterbögen und Sonderangeboten.

Doch nicht nur der Handel profitiert. Inzwischen hat sich eine ganze Branche von Eventdesignern etabliert, die sich auf Festdekorationen spezialisiert haben. Junge Architekten, Künstler, Handwerker – sie entwerfen Bühnenbilder für Kirchen, Einkaufszentren und Bürohäuser. „Weihnachten ist unser bestes Geschäft des Jahres“, sagt ein Designer, den man in einem Café an der Westsee trifft. „Früher war das Tết, aber jetzt – die Leute wollen Fotos, Lichter, Stimmung. Das ist der neue Trend.“

Hanoi, die Stadt der Funktionäre und Beamten, hat in den letzten Jahren ein neues Gesicht bekommen: das einer aufstrebenden Mittelklasse. Und sie braucht Symbole für ihren Erfolg. Weihnachten bietet sie in Überfülle – Dekorationen, Geschenke, Erlebnisse. Das Fest ist weniger Ausdruck des Glaubens als des Fortschritts.

Zwischen Glaube und Glamour

Dennoch, mitten im Lichtermeer, gibt es Momente der Stille. Wenn in den engen Gassen des Viertels Cửa Bắc die Glocken der Kirche läuten, bleiben selbst Passanten kurz stehen. Manche bekreuzigen sich hastig, andere neigen nur leicht den Kopf. Es ist, als würde in diesen Sekunden etwas durchscheinen, das tiefer liegt als Dekoration – eine alte Erinnerung, vielleicht an die Missionsschulen der Großeltern, an eine Zeit, in der das Christentum in Vietnam noch gefährlich war.

Ein Priester, den man nach der Messe spricht, sagt leise: „Wir sind eine kleine Herde, aber an Weihnachten hören uns alle zu.“ In seinen Augen spiegelt sich der Widerspruch dieser Stadt: der Glaube, der still bleibt, und die Feier, die laut ist.

Denn im Grunde ist Weihnachten in Hanoi kein westliches Fest mehr. Es ist ein vietnamesisches Ritual geworden – hybrid, farbenfroh, unruhig. Und vielleicht liegt genau darin seine Zukunftsfähigkeit.

Zwischen den Zeiten

Hanoi hat viele Kalender. Einen für den Staat, einen für den Markt, und einen für die Seele. Der westliche Kalender bestimmt das wirtschaftliche Jahr, die Uhrzeit, die Abläufe der Ministerien. Doch der andere – der Mondkalender – regiert noch immer über die großen Feste, die Emotionen, die Rhythmen des Lebens.

Das eigentliche Neujahr Vietnams, Tết Nguyên Đán, liegt meist erst Wochen nach Weihnachten, manchmal Ende Januar, manchmal im Februar. Es ist das Fest der Ahnen, der Familie, der Heimkehr. Ein ganzes Land kommt zum Stillstand, Züge sind überfüllt, Busse platzen aus allen Nähten, jeder versucht, noch rechtzeitig nach Hause zu kommen. Weihnachten dagegen bleibt ein urbanes Phänomen – ein Fest für jene, die geblieben sind, für die Stadtmenschen, die zwischen Tradition und Moderne leben.

Und doch gibt es Berührungspunkte. Beide Feste erzählen vom Wunsch nach Licht und Neubeginn, nach Reinheit und Zusammenhalt. Beide zentrieren sich um das Haus, das Heim, den Tisch. Doch während Tết das Vergangene ehrt – die Ahnen, die Geschichte, das Schicksal –, blickt Weihnachten nach vorn, auf die Möglichkeit eines neuen Anfangs. Es ist, wenn man so will, das westliche Echo eines östlichen Gedankens: die Wiederkehr des Lebens im Winter, die Hoffnung, dass das Dunkel vergeht.

Familie, Pflicht, Gemeinschaft

In vietnamesischen Familien ist die Gemeinschaft das unsichtbare Zentrum. Sie hält Generationen zusammen, trägt soziale Verpflichtungen, bestimmt Lebensentscheidungen. Das Weihnachtsfest, so westlich es wirken mag, wird in katholischen Haushalten diesem Muster angepasst. Die Familienfeier hat Vorrang, die Kirche ist der Ort, an dem man sich als Teil eines Ganzen erlebt.

In einem alten Viertel von Hanoi sitzt an einem Dezemberabend eine Familie um den Esstisch. Der Vater, pensionierter Lehrer, die Mutter, ehemalige Näherin, zwei erwachsene Kinder, die in einem IT-Unternehmen und einer Bank arbeiten. Sie sprechen über die bevorstehende Christmette. Auf dem Tisch: Reis, gegrilltes Schweinefleisch, ein Teller mit Orangen. Kein Luxus, aber ein Ritual.

„Früher war Weihnachten für uns fast verboten“, sagt der Vater. „Man musste still feiern, ohne Lichter, ohne Musik. Heute dürfen wir es wieder zeigen. Das ist schön, aber manchmal vermisse ich die Ruhe von damals.“

Es ist ein Satz, der viel erzählt. Vom Schweigen, das einst Pflicht war, und vom Übermaß, das heute die Leere füllt.

Die stillen Schichten des Glaubens

Vietnam ist offiziell ein atheistischer Staat, doch Religion ist nie ganz verschwunden. Sie hat sich nur verwandelt – in Formen des Alltags, in Gesten, in kleinen Altären an den Straßenrändern. Selbst wer sich nicht als gläubig bezeichnet, verneigt sich beim Vorbeigehen vor einer Pagode oder legt Räucherstäbchen vor dem Hausaltar ab. Spiritualität ist Teil der Luft, die man atmet, unspektakulär, selbstverständlich.

Weihnachten fällt in dieses System wie ein heller Fremdkörper. Seine Symbole – das Kind in der Krippe, der Stern, die Jungfrau, der Gesang – stammen aus einer anderen Mythologie, aber sie finden Resonanz. Die vietnamesische Kultur ist durchlässig, synkretistisch. Schon der Buddhismus wurde hier nie als dogmatische Religion verstanden, sondern als Lebensweise, als Harmonieprinzip. Und so wird auch das Christentum nicht als Gegensatz erlebt, sondern als Erweiterung.

In der Theologie des Volkes, wie sie Ethnologen nennen, wird der christliche Gott oft neben Ahnen und Geistern gedacht. Manche Familien stellen die Krippe neben den Hausaltar, lassen Maria und Josef über dieselben Opfergaben wachen, die auch den Vorfahren gelten. Das ist kein Widerspruch, sondern Ausdruck eines Denkens, das sich weigert, Absolutheiten anzuerkennen.

Ein Fest zwischen Ideologie und Sehnsucht

Die offizielle Kultur Vietnams bleibt marxistisch geprägt. Der Staat versteht sich als säkular, rational, wissenschaftlich. Doch im Schatten dieser Rationalität wächst eine leise Spiritualität, die in den letzten Jahrzehnten immer offener zutage tritt.

Soziologen beschreiben das Phänomen als Reenchantment, eine Wiederverzauberung der Welt. In einer Gesellschaft, die sich ökonomisch modernisiert, aber moralisch nach Halt sucht, gewinnen Rituale neue Bedeutung. Weihnachten ist Teil dieses Prozesses. Nicht, weil die Menschen massenhaft bekehrt würden, sondern weil das Fest eine Leerstelle füllt – das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach Sinn, nach Schönheit.

„Der Staat hat lange geglaubt, dass Religion verschwindet, wenn man sie verbietet“, sagt ein Religionswissenschaftler der Nationaluniversität Hanoi. „Aber sie ist zurückgekommen – nicht als Macht, sondern als Gefühl.“

Das vietnamesische Maß der Dinge

Manchmal zeigt sich dieses Gefühl in kleinen Gesten. Vor einer Kirche in Ba Đình, einem alten Stadtteil, sitzt ein junger Mann auf seinem Moped, raucht und beobachtet die Lichter. Er trägt keine Mütze, kein Kreuz, kein Zeichen des Glaubens. „Ich bin Buddhist“, sagt er, „aber Weihnachten ist schön. Es ist friedlich.“ Dann lächelt er, fährt weiter.

Vielleicht liegt darin das Geheimnis. Weihnachten in Vietnam ist weniger eine religiöse Erfahrung als eine ästhetische. Die Schönheit des Festes ersetzt seine Dogmen. Die Musik, das Licht, das gemeinsame Staunen genügen.

In diesem Sinne ist das vietnamesische Weihnachten ein Spiegel seiner Gesellschaft: pragmatisch, offen, respektvoll gegenüber der Geschichte, aber ohne Furcht vor Veränderung. Ein Fest, das seine Bedeutung nicht aus der Vergangenheit zieht, sondern aus dem Augenblick.

Von der Kolonie zur Gegenwart

Historisch betrachtet war das Christentum in Vietnam nie bloß ein spirituelles, sondern immer auch ein politisches Thema. Während der französischen Kolonialzeit wurde es zum Instrument der Macht. Viele Vietnamesen sahen in der Kirche den verlängerten Arm der Kolonialverwaltung. Der Katholizismus brachte Schulen und Krankenhäuser, aber auch Abhängigkeit.

Nach der Unabhängigkeit 1954, besonders im Norden, wurden viele Kirchen enteignet, Priester verhaftet, Gemeinden zerschlagen. Doch das Christentum überlebte in der Stille – getragen von Dorfgemeinschaften, von Frauen, die den Glauben an ihre Kinder weitergaben, von heimlichen Messen in Küchen und Hinterhöfen.

Heute, siebzig Jahre später, ist aus dieser Untergrundkultur eine anerkannte Minderheit geworden. Die Kathedrale steht im Herzen der Hauptstadt, und die Regierung nutzt das Bild der Mitternachtsmesse gern als Zeichen religiöser Toleranz.

Aber die Erinnerung an die alte Spannung bleibt. In den Predigten der Priester schwingt sie mit – die Ahnung, dass das Kreuz in Vietnam immer auch ein Zeichen des Widerspruchs war.

Die neue Generation

Und doch ist etwas anders geworden. Die Generation, die heute durch die Straßen zieht, kennt die alte Angst nicht mehr. Für sie ist Weihnachten kein Symbol der Fremdherrschaft, sondern Teil der urbanen Identität. Junge Vietnamesen wachsen mit globalen Bildern auf, mit Popkultur, Smartphones, Streamingdiensten. Sie konsumieren Weihnachten, ohne es zu hinterfragen – und genau darin liegt seine Leichtigkeit.

Ein 23-jähriger Student der Wirtschaftsuniversität sagt: „Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an das Teilen. Weihnachten ist einfach ein guter Grund, nett zu sein.“ Er lacht, als sei das die einfachste Sache der Welt. Und vielleicht hat er recht.

Denn das eigentliche Wunder dieses Festes liegt nicht im Dogma, sondern in der Geste. In einer Stadt, die in Bewegung ist, in der das Leben oft hart, laut, unübersichtlich ist, schenkt Weihnachten für ein paar Tage eine Illusion von Frieden. Ein Abend, an dem man Kerzen anzündet, anstatt sie zu löschen.

Das Licht und die Stille

Am frühen Morgen nach Heiligabend liegt über Hanoi ein anderes Licht. Der Nebel hängt schwer über den Dächern, die Stadt ist müde. Die Straßenverkäuferinnen kehren mit ihren Bambuskörben auf die Märkte zurück, das Leben nimmt seinen gewöhnlichen Rhythmus wieder auf. Nur die Kathedrale steht noch im Festschmuck: Lichterketten, die vom Turm hängen, Sterne, die im Wind schaukeln.

Die Nacht war laut, voller Stimmen, voller Bewegung. Jetzt ist alles still. Nur das Summen der Motorroller bricht die Luft. Ein paar Kinder sammeln Luftballons, die noch vom Vorabend übrig sind. Auf den Gehwegen liegen Reste von Wachskerzen, die Gläubige angezündet hatten, und der Duft von Wachs mischt sich mit dem von Straßenkaffee.

Weihnachten in Hanoi dauert selten länger als eine Nacht. Es ist ein flüchtiges Schauspiel, das sich am nächsten Tag wieder auflöst – wie ein Traum, der kurz aufblitzt und dann im Morgenlicht verschwindet. Und doch bleibt etwas zurück. Nicht in den Dekorationen, sondern in den Gesichtern der Menschen, die in dieser Nacht gelächelt haben, als hätten sie für einen Augenblick vergessen, wie schwer das Leben sein kann.

Das Erbe des Lichts

Hanoi ist keine Stadt der großen Emotionen. Ihre Schönheit liegt im Widerstand gegen Pathos. Sie ist eine Stadt des Alltäglichen, der stoischen Bewegung, des Pragmatismus. Und vielleicht deshalb ist Weihnachten hier so auffällig: Es bricht den Alltag auf, erlaubt für kurze Zeit das Träumen.

Ein Philosoph der Universität Hanoi schrieb einmal, Feste seien „die erlaubte Unterbrechung der Pflichterfüllung“. In diesem Sinn ist Weihnachten in Vietnam mehr als ein westliches Exportgut – es ist ein seltenes Innehalten in einem Land, das von Pflichten durchdrungen ist. Familie, Arbeit, Staat – all das ordnet sich in diesen Tagen für einen Moment dem Licht unter.

Im Viertel von Cửa Nam öffnet eine alte Frau die Tür ihres Hauses. Drinnen steht noch ein kleiner Plastikbaum, schief, mit blinkenden Lichtern. „Ich lasse ihn bis Neujahr stehen“, sagt sie, „weil das Licht schön ist.“ Es ist ein Satz, der nichts Religiöses enthält und doch alles sagt. Schönheit, das ist hier ein stilles Bekenntnis – vielleicht das einzige, das niemand zensiert.

Zwischen Himmel und Straße

Es gibt in Hanoi eine besondere Art, mit Gegensätzen zu leben. Man akzeptiert sie, ohne sie aufzulösen. Der Klang der Tempelglocke mischt sich mit dem Rufen der Straßenhändler, der Marxismus mit dem Ahnenkult, das westliche Fest mit dem tropischen Alltag. Weihnachten ist Teil dieses Mosaiks geworden, ein weiteres Stück im Puzzle einer Stadt, die sich nicht entscheiden muss, weil sie alles sein kann.

Am Rand des Hoàn-Kiếm-Sees stehen junge Paare Hand in Hand. Im Wasser spiegelt sich das Licht der Dekorationen. Der See ist in dieser Jahreszeit still, das Wasser grau, die Bäume kahl. Über allem liegt ein milder Dunst. Hier, wo einst französische Offiziere flanierten und Revolutionäre konspirierten, wo Geschichte und Gegenwart sich ineinander verweben, ist Weihnachten zu Hause – nicht als Glaubensbekenntnis, sondern als Geste der Gemeinsamkeit.

Ein Straßenmusiker spielt auf einer alten Gitarre ein Lied, das vage an Silent Night erinnert. Seine Stimme ist rau, kaum zu verstehen, aber die Melodie trägt. Ein paar Kinder bleiben stehen, lauschen, lachen. Es ist diese beiläufige, unprätentiöse Zärtlichkeit, die das vietnamesische Weihnachten prägt. Kein Pathos, keine Überwältigung – nur das Leuchten kleiner Momente.

Die Zukunft der Erinnerung

Wie wird sich das Weihnachtsfest in Hanoi entwickeln? Vielleicht wird es größer, lauter, kommerzieller. Vielleicht wird es – wie so vieles – Teil der touristischen Inszenierung werden. Doch zugleich wächst eine junge Generation heran, die das Fest wieder mit Bedeutung füllt. Nicht als Religion, sondern als Erinnerung an etwas, das man nicht greifen kann: die Sehnsucht nach Ruhe, nach Zugehörigkeit, nach einem Funken Magie in der Sachlichkeit des Alltags.

In den Schulen lernen Kinder Weihnachtslieder auf Englisch, ohne die Theologie dahinter zu kennen. In den Supermärkten werden importierte Süßigkeiten verkauft, und in den Cafés spricht man über Urlaubspläne. Aber dazwischen, ganz leise, passiert etwas anderes: eine langsame Aneignung. Das westliche Fest verliert seine Fremdheit, wird Teil der eigenen kulturellen Grammatik.

So, wie die Vietnamesen einst französische Architektur in ihre Städte integrierten, ohne ihre Seele zu verlieren, so integrieren sie auch Weihnachten – es wird vietnamesisch, auf eigene Weise. Eine Feier des Glanzes und der Gemeinschaft, der Familie und des Spiels.

Ein letzter Abend

Am letzten Abend des Jahres, kurz vor dem westlichen Neujahr, hängen viele der Lichter noch immer. Sie werden erst verschwinden, wenn Tết naht, wenn die Mandarinenbäume blühen und die roten Umschläge mit Geld gefüllt werden. Dann wird die Stadt wieder gelb und rot leuchten, nicht blau und silbern. Weihnachten weicht dem eigentlichen Fest des Landes, wie eine Welle, die sich zurückzieht.

Doch die Erinnerung bleibt. Vielleicht, weil sie nicht an Gesetze gebunden ist, nicht an Dogmen oder Kalender. Weihnachten in Hanoi ist wie eine Zwischenzeit – eine Brücke zwischen der Vergangenheit der Kolonialzeit und der Zukunft einer globalisierten Nation, zwischen Glauben und Skepsis, zwischen dem Geräusch der Motoren und dem Klang der Glocken.

Wenn die Nacht hereinbricht und die Stadt noch einmal aufleuchtet, dann wirkt Hanoi wie ein Ort, der für einen kurzen Moment aus der Zeit gefallen ist. Die Kathedrale steht im Nebel, und über dem Gewirr aus Mopeds, Leuchtschildern und Menschen schwebt das Echo eines alten Liedes. „Stille Nacht“ – gesungen mit vietnamesischem Akzent, aber mit derselben zarten Hoffnung, die irgendwo in Europa einst die Dunkelheit durchbrach.

Und vielleicht ist das die eigentliche Bedeutung dieses Festes in Vietnam: dass es zeigt, wie universell der Wunsch nach Licht ist. Dass selbst in einem Land ohne Winter die Sehnsucht nach Wärme bleibt. Und dass in einer Stadt, die niemals schläft, ein paar Stunden der Stille genügen, um das Menschliche im Lärm wiederzufinden.

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