Ushaiger – wo der Wind durch die Lehmziegel flüstert

Autor: Torsten Matzak

Ein saudisches Dorf zwischen Vergangenheit und Wiedergeburt.

Die Stille im Lehm

Der Wind kommt früh in Ushaiger. Noch bevor die Sonne die Palmenkronen trifft, tastet er über die flachen Dächer, streicht durch die engen Gassen, rüttelt leise an den Holztüren. Es ist kein scharfer, beißender Wind wie in den offenen Wüstenebenen, sondern ein gedämpftes, fast sanftes Atmen, das den Staub der Nacht davonträgt. Ich stehe auf dem Vorplatz eines alten Tores – das Holz grau, rissig, und doch fest –, und spüre, wie der Ort unter der Sonne langsam erwacht. Ein Hahn ruft, irgendwo klappert Metall. Dann wieder Stille.

Photoalbum Ushaiger

Der Weg hierher war lang und geradlinig, wie fast alles in Zentral-Saudi-Arabien. Von Riad aus führt die Straße schnurgerade nach Nordwesten, durch Sand, Felsen, leere Weite. Nur selten durchschneidet eine Karawanenstation, ein verlassener Rastplatz oder eine Tankstelle das endlose Beige. Nach zwei Stunden, wenn man beginnt, die Monotonie als eine Art Ruhe zu begreifen, taucht plötzlich Farbe auf. Palmen. Wasser. Ein Dorf, das aussieht, als wäre es aus der Erde selbst geboren: Ushaiger.

Man nennt es ein „Heritage Village“, ein Kulturerbe. Das klingt steril, nach Museum. Doch hier, zwischen den ockerfarbenen Mauern, pulsiert noch etwas anderes – etwas Unfertiges, etwas Echtes. Ich gehe durch den Torbogen, und das Licht verändert sich. Die Sonne draußen ist grell und hart, hier drinnen ist sie gebrochen, warm, golden. Es riecht nach Lehm, nach getrocknetem Dattelsaft und alter Zeit.

Ein alter Mann sitzt im Schatten, das Gesicht vom Licht in Furchen geteilt. Er nickt kaum merklich, als ich vorbeigehe. Neben ihm lehnt ein Besen aus Palmblättern. Später erfahre ich, dass er Yusuf heißt und einer der Freiwilligen ist, die die Gassen sauber halten. „Früher war das unser Zuhause“, sagt er, „jetzt ist es unser Gedächtnis.“

Ich streife weiter. Die Wege sind eng, kaum breit genug für zwei Menschen. Manche führen in Sackgassen, andere öffnen sich plötzlich zu kleinen Innenhöfen, in denen Dattelpalmen wachsen. Das Dorf wirkt wie ein Labyrinth aus Ton und Erinnerung. Die Mauern sind unregelmäßig, manche frisch verputzt, andere von Wind und Zeit zerfressen. Über mir verlaufen Holzbalken, zwischen denen das Licht flirrt.

Die Stille hier ist nicht leer. Sie ist gefüllt mit dem Gewicht der Geschichte. Man hört die eigenen Schritte, das ferne Gurren von Tauben, das leise Rascheln der Palmenblätter. Und irgendwo ganz hinten das Summen einer Klimaanlage – ein leiser Hinweis darauf, dass die Gegenwart immer noch mitschwingt.

Ich bleibe an einer Ecke stehen. Vor mir eine alte Tür, kunstvoll geschnitzt, mit Eisenbeschlägen, die so alt aussehen, als hätten sie noch die Karawanenzeit gesehen. Ein kleiner Junge läuft vorbei, barfuß, lacht, ruft etwas Arabisches. Seine Mutter ruft ihn zurück. In diesem Moment verschwimmen die Zeiten. Die Lehmwände, die Jahrhunderte überstanden haben, und die Stimme des Kindes – sie gehören irgendwie zusammen.

Ein älterer Mann tritt aus einem schmalen Durchgang. Weißer Thawb, Sandalen, die Hände verschränkt. Er stellt sich vor: Mohammed al-Mutlaq, ehemaliger Lehrer, jetzt Führer durch das Dorf. „Sie nennen uns die Leute des Lehm“, sagt er lächelnd. „Aber wir waren immer mehr als das.“ Dann führt er mich durch ein Netz von Gassen, erzählt von alten Familien, von Pilgern, die hier Rast machten, von Wasserkanälen, die einst die Palmenfelder versorgten.

„Ushaiger war eine Station auf dem Weg zur Heiligkeit“, sagt er. „Wer aus dem Norden kam – aus Kuwait, Irak, manchmal Persien –, der machte hier Halt. Man trank Wasser, betete, ruhte sich aus. Dann ging man weiter nach Mekka.“

Wir bleiben vor einem halbverfallenen Haus stehen. Die Mauern sind zur Hälfte eingestürzt, aber man erkennt noch das Gerüst der Räume, die Nischen, den Innenhof. „Das hier“, sagt Mohammed, „war das Haus eines Gelehrten. Vor vierhundert Jahren kamen Schüler aus der ganzen Region, um hier zu lernen.“

Die Sonne steht jetzt hoch, das Licht fällt senkrecht. Schatten gibt es kaum noch. Ich spüre die Hitze an der Stirn, den Sand in den Schuhen. Doch je länger ich gehe, desto deutlicher spüre ich, dass diese Hitze Teil des Erlebnisses ist – ein Element wie das Wasser in Venedig oder der Nebel in Hamburg. Ohne sie wäre der Ort nicht er selbst.

Einmal öffnet Mohammed eine schwere Holztür. Dahinter liegt ein Raum, kühler als draußen, fast dunkel. Der Boden aus gestampftem Lehm, an der Wand hängen Fotos: Männer mit Turbanen, alte Schriftrollen, eine Karte aus der Zeit, als die Halbinsel noch nicht einmal Grenzen kannte. „Das Museum“, sagt er schlicht. Kein Eintritt, keine Absperrungen. Nur Geschichte, die sich selbst überlassen ist.

Ich frage ihn, warum er hierbleibt, während so viele in die Städte gezogen sind. Er zuckt mit den Schultern. „Weil es uns erzählt, wer wir waren. Und wer wir vielleicht wieder sein könnten.“

Draußen, auf dem kleinen Platz, glitzert das Licht auf den Dattelblättern. Ein paar Kinder spielen Fangen, ihre Stimmen hallen zwischen den Mauern. Ich sehe einen Wasserkrug, der auf einer Mauer steht, das Wasser perlt kühl am Ton hinab. Es wirkt, als hätte jemand ihn dort vor Stunden abgestellt und vergessen. Vielleicht ist es einfach Teil der Kulisse, vielleicht wartet er auf jemanden.

Später sitze ich auf einer Stufe und notiere ein paar Sätze in mein Heft. Über mir gleitet ein Falke durch die heiße Luft, lautlos, sicher. In der Ferne dröhnt ein Motorrad – das moderne Saudi-Arabien, das irgendwo da draußen weiterrollt. Doch hier, in diesem Dorf aus Lehm, scheint die Zeit zu stehen. Nicht in romantischer Erstarrung, sondern in einem ruhigen Atemzug, der über Jahrhunderte reicht.

Man sagt, die Wüste sei leer. Aber das stimmt nicht. Sie ist nur sparsam mit ihren Zeichen. Ushaiger ist eines davon.

Vom Karawanenstopp zum Erbe

Wenn man auf den kleinen Aussichtspunkt oberhalb des Dorfes steigt, sieht man es ganz: ein Gewirr aus Gassen, Mauern, Palmen, Schattendächern – ein Muster, das wie zufällig wirkt und doch geordnet ist. Von hier aus versteht man, warum Ushaiger über Jahrhunderte überlebte. Es liegt nicht einfach in der Wüste, es duckt sich hinein. Das Dorf ist nicht gegen das Klima gebaut, sondern mit ihm.

Ein schmaler Wasserlauf zieht sich durch das Tal, gespeist aus alten Brunnen. Heute fließt er träge, manchmal gar nicht. Früher aber, sagt Mohammed, war das der Lebensnerv. „Alles drehte sich ums Wasser. Ohne es – kein Schatten, keine Datteln, kein Leben.“ Er deutet auf ein paar Steine im Sand. „Hier verlief der alte Kanal. Die Kinder haben darin gebadet, wenn der Sommer kam.“

Ich versuche mir das vorzustellen: Kinder, die lachend durch das Wasser laufen, Frauen, die Datteln in Körben spülen, Männer, die ihre Tiere tränken. Damals war Ushaiger keine Sehenswürdigkeit, sondern ein Zwischenhalt, ein Atemzug zwischen den endlosen Wegen der Pilgerkarawanen.

Seit dem 16. Jahrhundert zog hier eine stille Prozession von Menschen vorbei: Händler, Nomaden, Gelehrte, Pilger aus dem Norden. Sie kamen aus Kuwait, Basra, Hasa – mit Kamelen, Lasten, Hoffnung. In den Häusern entlang der Hauptgasse fanden sie Schlaf und Schutz. Man gab ihnen Wasser, Brot, Geschichten. Dann zogen sie weiter nach Mekka, dem Ziel, das sie verband.

Die alten Chroniken nennen Ushaiger einen Ort der „Erquickung“, eine Oase der Reinheit – und das nicht nur wegen des Wassers. Hier lebten Familien, die für ihre Gastfreundschaft und Gelehrsamkeit bekannt waren. Im 17. Jahrhundert wurde der Ort zum geistigen Zentrum der Region Al-Washm. Im Schatten der Palmen lehrten Männer Theologie, Dichtung und Rechtswissenschaft. Einige von ihnen trugen später dazu bei, die religiöse Bewegung zu formen, die den Grundstein des modernen Saudi-Arabiens bilden sollte.

Aber Geschichte ist selten gnädig mit Orten. Als die Handelsrouten sich verlagerten, die Karawanenstraßen verödeten und das Öl das Denken veränderte, blieb Ushaiger zurück. In den 1970er-Jahren zogen viele Familien nach Riad oder nach Shaqra. Die Häuser standen leer, der Lehm begann zu bröckeln, das Holz zu faulen. Was blieb, waren Mauern, Erinnerungen – und ein paar Alte, die nicht gehen wollten.

Einer von ihnen ist Abdullah al-Hassan. Ich treffe ihn an einem Nachmittag, als das Licht staubig wird. Er sitzt auf einem niedrigen Stuhl vor seinem Haus, die Hände gefaltet, den Blick in die Ferne gerichtet. „Ich bin hier geboren“, sagt er. „Damals war jedes Haus bewohnt. Abends hörte man Lachen, manchmal Gesang. Jetzt hörst du nur den Wind.“

Er erzählt, wie er in den 1980er-Jahren zusehen musste, wie die Mauern langsam fielen. „Wir hatten kein Geld für Reparaturen. Und die Jungen wollten nicht bleiben. Wer wollte auch – ohne Arbeit, ohne Schule, ohne Arzt?“ Einmal, sagt er, sei ein Sandsturm durchs Dorf gezogen und habe ein ganzes Dach mitgenommen. Danach habe man beschlossen, wenigstens ein paar Häuser zu retten – als Erinnerung.

Diese Rettung begann unscheinbar. Eine Gruppe ehemaliger Dorfbewohner, Lehrer und Handwerker, kam an Wochenenden zurück. Mit eigenen Händen mischten sie Lehm, setzten Balken, flickten Dächer. Keine große Kampagne, keine Fernsehkameras – nur der Wille, das Vertraute zu bewahren. Später half das saudische Kulturerbeamt, und aus der privaten Initiative wurde ein offizielles Projekt: das Ushaiger Heritage Village.

Man spürt, dass dieses Wort „Heritage“ für die Älteren ambivalent klingt. Einerseits bedeutet es Anerkennung; andererseits macht es ihr Dorf zu etwas, das man besucht, nicht bewohnt. „Wir wollten nicht, dass es ein Museum wird“, sagt Abdullah. „Wir wollten, dass es atmet.“

In einem der wiederhergestellten Häuser ist heute ein kleines Museum eingerichtet. Keine glatten Glasvitrinen, sondern ein paar Holzregale, auf denen alte Werkzeuge liegen: eine Tonlampe, eine Spindel, ein Kupferkrug. An den Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotos von Männern mit ernsten Gesichtern. In der Ecke ein Korb mit Datteln, als könne jederzeit jemand hereinkommen, sich setzen, erzählen.

Ich sehe auf einem der Bilder einen Mann mit einem Buch in der Hand, den Blick direkt in die Kamera gerichtet. Mohammed erkennt ihn sofort. „Das war Scheich Abdulrahman, mein Großvater. Er hat hier gelehrt, als es noch keine Schule gab.“ Ein stiller Stolz liegt in seiner Stimme.

Ushaigers Geschichte ist keine heroische. Sie ist die Geschichte vieler arabischer Dörfer – Aufstieg durch Wasser, Fall durch Zeit. Und doch unterscheidet sie sich in einem Punkt: Hier hat man entschieden, das Alte nicht nur zu bewahren, sondern wieder begehbar zu machen.

Im Jahr 2010 wurde das Dorf offiziell als Kulturerbestätte eröffnet. Heute führen schmale Pfade Besucher durch die Gassen, kleine Schilder erklären, was einst hier stand: das Haus des Imams, der Brunnen der Frauen, die Moschee der Gelehrten. Doch die beste Erklärung ist immer noch der Ort selbst.

Als die Sonne untergeht, wandern die Schatten langsam über die Mauern. Das Licht macht sie weich, fast lebendig. Ich denke an die Karawanen, die hier Rast machten, an die Stimmen, die gebetet, diskutiert, gelacht haben. In dieser Stille liegt nicht Tod, sondern eine Form von Kontinuität – ein leises Weiterleben im Material.

Später, bei Tee und Datteln, fragt mich Abdullah: „Warum interessieren sich Leute aus dem Westen für unser Dorf?“ Ich antworte, dass Orte wie dieser etwas zeigen, das überall selten geworden ist – Geduld, Handwerk, Zeit. Er nickt, lächelt und sagt: „Dann hast du verstanden, warum wir geblieben sind.“

Die Architektur des Lebens

Wenn man in Ushaiger mit der Hand über eine Hauswand streicht, spürt man, woraus dieser Ort gemacht ist: Erde, Stroh, Schweiß und Geduld. Der Lehm ist warm, fast weich. Er bröckelt leicht, aber nicht aus Schwäche, sondern weil er atmen will. In der Hitze der Najd-Region ist das keine Nebensache, sondern Überlebensstrategie.

Ich begleite Mohammed, den Lehrer, durch das Viertel, das man al-Urayyan nennt – eines der ältesten. Er zeigt auf die Linien der Mauern, auf ihre Schrägen und Bögen. „Nichts hier ist gerade,“ sagt er. „Gerade Linien sind für Städte, die auf Papier geplant wurden. Wir bauen mit der Sonne, nicht mit dem Lineal.“

In den Häusern von Ushaiger steckt eine alte Intelligenz. Die Mauern sind dick, damit sie tagsüber die Hitze aufnehmen und nachts langsam abgeben. Fenster sind klein, hoch gesetzt, oft nur schmale Schlitze. Die Innenhöfe dienen als Ventil, als private Oase, in der Wind und Schatten sich begegnen. Selbst die Gassen sind Teil des Systems – sie verlaufen so eng, dass sich die Häuser gegenseitig Schatten spenden. Man geht hier nicht unter Sonne, man geht im Licht, das gefiltert ist.

Mohammed führt mich zu einem Haus, das gerade restauriert wird. Ein junger Mann steht auf einem Gerüst, schaufelt Lehm aus einer flachen Wanne. Er trägt keine Schutzkleidung, nur Sandalen, ein Tuch über dem Kopf. Seine Hände sind braun vom Ton. „Das ist Hamad“, sagt Mohammed. „Er ist aus Shaqra, hat aber beschlossen, hier zu lernen, wie man früher gebaut hat.“

Hamad steigt herunter, schüttelt mir die Hand. Der Lehm klebt an seinen Fingern. „Wir benutzen denselben Mix wie früher“, erklärt er. „Erde aus der Umgebung, gemischt mit Wasser und Dattelpalmenfasern. Dann lassen wir ihn einen Tag stehen, bevor wir ihn formen.“

Er zeigt mir, wie er den Lehm zwischen den Händen dreht, wie er ihn mit einer Holzform presst. Die Bewegung wirkt archaisch, fast rituell. „Zement ist schneller“, sagt er, „aber der Lehm ist ehrlicher.“

Ich frage, warum. Er lacht. „Zement will nicht zurück zur Erde. Lehm schon.“

Diese Haltung zieht sich durch das ganze Dorf. Die Architektur hier ist kein Stil, sondern eine Beziehung zwischen Mensch und Material. Man baut nicht gegen die Natur, man nutzt sie. Das Holz der Palmen dient als Dachbalken, die Fasern als Bindemittel, das Wasser als Rhythmusgeber. Wenn es regnet – selten genug –, saugen die Mauern Feuchtigkeit auf, ohne zu zerfallen. Wenn die Sonne brennt, geben sie Kühle zurück.

Ich denke an die Städte, die ich kenne: Glas, Beton, Stahl – alles Materialien, die den Menschen aus der Gleichung nehmen. Hier dagegen ist jedes Haus ein Körper. Es schwitzt, es altert, es atmet.

Mohammed öffnet eine niedrige Tür und bittet mich hinein. Ich ducke mich. Der Raum ist schummrig, kühl, fast still. „Hier hat man geschlafen“, sagt er. „Im Sommer auf den Dächern, im Winter unten. Man kannte die Jahreszeiten nicht nur am Kalender, sondern an der Wandtemperatur.“

Ich setze mich auf den Boden. Die Luft riecht nach Staub und Holzrauch. Durch einen Spalt im Dach fällt ein schmaler Sonnenstrahl und malt einen hellen Kreis auf den Lehmboden. Es ist ein einfaches Bild, aber von einer Ruhe, die in modernen Räumen selten geworden ist.

„Die Leute haben sich gegenseitig geholfen“, sagt Mohammed. „Wenn ein Haus gebaut wurde, kam das halbe Dorf. Die Männer trugen Lehm, die Frauen kochten, die Kinder spielten im Sand. Man baute nicht nur Wände, man baute Nachbarschaft.“

Draußen ruft jemand. Eine Frau steht am Brunnen, füllt Wasser in eine alte Blechkanne. Sie lächelt, als sie uns sieht. Ihr Gesicht ist von der Sonne gegerbt, aber ihre Augen leuchten. „Sie heißt Noura“, sagt Mohammed. „Ihre Familie besitzt noch drei Häuser hier. Sie kommen jedes Wochenende aus Riad, um nach dem Rechten zu sehen.“

Ich frage sie, warum sie das tut. „Weil meine Großmutter hier lebte“, sagt sie. „Sie hat uns beigebracht, dass Häuser wie Menschen sind – wenn du sie nicht besuchst, vergessen sie dich.“

Ein Satz, der hängen bleibt. Ich schreibe ihn in mein Notizbuch, später, als die Sonne tiefer steht.

Am Rand des Dorfes steht eine kleine Moschee. Der Gebetsraum ist schlicht, die Wände aus Lehm, das Dach aus Palmstämmen. Kein Schmuck, kein Prunk – nur Stille und Raum. Ich setze mich auf den Boden, lehne mich an die Wand. Die Temperatur ist ideal, weder heiß noch kalt. Ich verstehe, warum diese Bauweise über Jahrhunderte funktionierte. Es geht nicht um Schönheit, sondern um Gleichgewicht.

Hamad kommt später dazu, mit einem Tablett Tee. Er setzt sich zu mir, gießt den bernsteinfarbenen Flüssigkeit in kleine Gläser. „Weißt du“, sagt er, „mein Großvater hat diese Moschee gebaut. Er hat gesagt, wer Lehm richtig versteht, versteht Geduld.“

Ich sehe hinaus auf die Gasse. Ein Junge trägt eine Schubkarre voller Ziegel, barfuß, konzentriert. Die Sonne steht schräg, das Licht wird golden.

In Ushaiger ist jedes Haus ein Lehrbuch, aber keines gleich dem anderen. Manche haben kunstvoll geschnitzte Türen, andere einfache Holzrahmen. Einige besitzen kleine Oberlichter, die nachts den Mond hereinlassen. Überall gibt es Stufen, die zu Flachdächern führen – dort, wo man in warmen Nächten schläft, redet, träumt.

Am späten Nachmittag steigt der Wind. Er fährt durch die engen Gassen, wirbelt Staub auf, klappert an Türen. Mohammed bleibt stehen, legt die Hand auf eine Mauer. „Hörst du das?“ fragt er. Ich höre nur das Flattern von Stoff, das leise Pfeifen zwischen zwei Häusern. „Das ist das Atmen des Dorfes“, sagt er. „Wenn der Wind kommt, weißt du, dass es noch lebt.“

Vielleicht ist das die eigentliche Architektur dieses Ortes: nicht die Formen, sondern der Klang. Das Zusammenspiel von Wind, Stein, Wasser und Zeit. Ein stilles System, das nicht modernisiert werden will, sondern verstanden.

Als die Sonne verschwindet, färbt sich der Himmel in ein tiefes Orange. Die Mauern leuchten, als glühten sie von innen. Ich stehe auf dem Dach eines Hauses, sehe über das Dorf hinweg. Die Schatten werden länger, und plötzlich höre ich den Ruf des Muezzin, der über die Gassen gleitet. Es ist derselbe Ruf, den Generationen vor mir gehört haben – unverändert, klar, tröstlich.

Unten schließt jemand eine Tür. Der Wind trägt den Geruch von Datteln herauf. Ich denke an Hamad, an Noura, an Mohammed – und daran, dass sie hier nicht nur Häuser restaurieren, sondern eine Sprache aus Erde und Licht, die fast verloren gegangen war.

Menschen von heute – Hüter der Erinnerung

Mittags ist das Dorf still wie eine angehaltene Uhr. Die Sonne hängt über dem Himmel wie ein festgenagelter Nagel, die Luft zittert, kein Vogel bewegt sich. Nur irgendwo tropft Wasser aus einem Rohr. In dieser Stunde ruht Ushaiger. Selbst der Wind hat aufgegeben.

Ich sitze mit Fatimah in einem der schattigen Innenhöfe. Sie trägt ein schlichtes, helles Kleid und hat einen festen Blick, der gleichzeitig freundlich und prüfend ist. Neben ihr dampft ein kleiner Topf Tee, der süß nach Kardamom riecht. „Ich komme jedes Wochenende“, sagt sie, „manchmal mit meinen Kindern, manchmal allein.“ Sie arbeitet als Architektin in Riad, plant Hochhäuser aus Glas, erzählt sie. „Aber hier“, sagt sie, und deutet auf die Lehmmauer, „hier verstehe ich, was ein Haus wirklich ist.“

Fatimah gehört zu einer Generation, die den Sprung zwischen zwei Welten schafft – Hightech und Handwerk, Schnellstraße und Karawanenpfad. Sie hilft bei Restaurierungsprojekten, oft unbezahlt. „Ich brauche das“, sagt sie. „Es erinnert mich daran, dass Fortschritt nicht immer bedeutet, etwas Neues zu bauen.“

Wir schweigen einen Moment. Ein Hahn kräht, irgendwo fällt eine Tür ins Schloss. Das Licht an der Wand wandert langsam weiter.

Nicht weit entfernt, in einem kleinen Laden am Dorfrand, verkauft ein älterer Mann Honig. Sein Name ist Rashid. Der Laden ist kaum größer als eine Garage. An den Wänden hängen alte Fotos: Männer mit Kamelen, Frauen mit Wasserkrügen, ein Kind auf einem Esel. Rashid sitzt auf einem niedrigen Stuhl, rührt in einer Schale mit bernsteinfarbenem Honig. „Der kommt von den Bienen im Wadi,“ sagt er, „rein, stark, bitter-süß – wie dieses Land.“ Er lacht leise, ein Lachen, das kratzt. „Früher haben wir hier alles selbst gemacht. Brot, Öl, Werkzeuge. Heute kommen die Leute aus der Stadt, um zu sehen, wie das war.“ Er zieht die Brauen hoch, als wolle er fragen, ob das nicht merkwürdig sei. Ich nicke.

Rashid erzählt, dass er als junger Mann wegging – in die Armee, später in eine Fabrik. Dann, irgendwann, kam er zurück. „Man glaubt, man verlässt einen Ort. Aber am Ende ist es der Ort, der in einem bleibt.“ Er sieht aus dem Fenster. Draußen geht eine Frau mit einem Tablett voll Datteln vorbei, das Gesicht halb verschleiert. Der Duft von gebackenem Brot weht herein. „Ich bin nicht mehr jung,“ sagt er, „aber wenn ich morgens aufwache und die Mauern sehe, weiß ich, dass ich am richtigen Platz bin.“

Später treffe ich eine Gruppe Jugendlicher am Rande des Dorfes. Sie sitzen auf einer niedrigen Mauer, Smartphones in der Hand, lachen laut. Einer von ihnen, Sami, spricht gutes Englisch. „Wir kommen oft hierher für Fotos,“ sagt er. „Der Ort ist… wie sagt man… aesthetic.“ Er grinst. Seine Freunde nicken. Sie erzählen, dass sie das Dorf nicht mehr als etwas Altes sehen, sondern als Teil ihrer Identität. „Meine Großmutter hat hier gewohnt,“ sagt ein anderer. „Jetzt sehe ich, warum sie nie vergessen wollte, wie es roch, wenn die Sonne auf die Mauern fiel.“ Sie machen Selfies vor einem alten Tor, lachen wieder, verschwinden. Doch der Gedanke bleibt: Vielleicht wird das Gedächtnis eines Ortes in Zeiten von Instagram auf neue Weise konserviert – nicht mehr durch Geschichten, sondern durch Bilder.

Am Nachmittag treffe ich Saad, den Wächter des kleinen Museums. Ein hagerer Mann mit einem Gesicht, das von der Sonne gezeichnet ist. In seiner Hand ein alter Schlüsselbund, dessen Metall kühl und schwer wirkt. „Jeden Tag schließe ich auf und zu,“ sagt er, „und jeden Tag denke ich, das hier ist mehr als ein Job.“ Er zeigt mir die Räume, kennt jedes Exponat, jede Geschichte. Vor einem alten Koran bleibt er stehen. „Das hier wurde vor über 300 Jahren in diesem Dorf geschrieben. Die Schrift ist noch klar, sie hat den Sand überlebt.“ Seine Stimme wird leiser. „Wenn ich hier bin, spüre ich, dass ich Teil von etwas bin, das größer ist als meine Zeit.“

Wir gehen hinaus. Die Sonne steht jetzt tiefer, der Schatten fällt quer über die Mauern. „Manchmal kommen Touristen aus Europa,“ sagt Saad. „Sie staunen über den Lehm, über die Einfachheit. Aber sie sehen nicht, dass es nicht Nostalgie ist, sondern Überleben. Diese Häuser waren nie romantisch. Sie waren notwendig.“ Er sagt es ohne Bitterkeit, nur mit einer ruhigen Gewissheit.

Am Abend kehrt wieder Leben ins Dorf zurück. Kinder rennen durch die Gassen, rufen einander zu. Aus einer Küche dringt der Geruch von Fladenbrot. Zwei Männer sitzen auf einer Stufe und spielen Karten, murmeln leise. Die Hitze fällt, die Luft wird weicher. Ushaiger atmet.

Ich treffe Hamad wieder, den jungen Restaurator. Er sitzt mit Freunden vor einem Haus, trinkt Tee aus kleinen Gläsern. „Wir sind nicht hier, weil wir müssen,“ sagt er. „Wir sind hier, weil wir wissen, dass jemand es tun muss.“ Er erzählt, dass sie abends oft zusammensitzen, Geschichten hören von den Alten, über Bräuche, Feste, Hochzeiten. „Früher,“ sagt er, „gab es in jedem Haus eine Geschichte. Wenn wir sie nicht erzählen, werden die Mauern still.“

Später, im Zwielicht, höre ich Musik. Eine Oud, sanft angeschlagen, die Töne warm, fast traurig. Jemand singt dazu, eine alte Melodie, deren Worte ich nicht verstehe. Aber ich verstehe den Ton – dieses Gleichgewicht aus Sehnsucht und Frieden.

Ich gehe durch die Gassen, sehe in den Türen Licht. Nicht grell, sondern weich, wie Kerzen hinter Glas. Menschen sitzen beieinander, trinken Tee, reden leise. Kein Lärm, keine Eile.

Ich denke an die Großmutter, von der Fatimah erzählt hatte, an Rashid, der den Honig rührt, an Saad mit seinem Schlüsselbund. Hüter der Erinnerung, ja – aber nicht aus Pflicht, sondern aus Zuneigung.

Am Rand des Dorfes bleibe ich stehen. Über den Dächern glimmt der Himmel in einem tiefen Kupfer. Palmen wie Schattenrippen. Ich höre noch einmal den Ruf des Muezzin, den zweiten des Abends. Danach nur Wind.

Ein Gedanke kommt mir, während ich den Staub von meinen Schuhen klopfe: Vielleicht ist Erinnerung nichts, was man bewahrt. Vielleicht ist sie das, was bleibt, wenn man einfach nicht aufhört, an einem Ort zu sein.

Das neue Selbstbewusstsein – Saudi-Arabiens Identitätssuche

Wenn man von Ushaiger nach Süden fährt, zurück Richtung Riad, spürt man den Übergang – vom Zeitlosen ins Aktuelle, vom Lehm in den Beton. Kilometerlang zieht sich die Wüste, dann plötzlich: Schnellstraßen, Baukräne, neue Städte, die aus Glas wachsen. Saudi-Arabien verändert sich mit einer Geschwindigkeit, die fast atemlos macht.

In Riad redet man von Visionen. „Vision 2030“ – das Schlagwort, das alles überragt. Es bedeutet: Öffnung, Tourismus, Diversifizierung, Modernisierung. Und irgendwo in diesem gigantischen Plan taucht ein kleines Dorf auf, das auf den ersten Blick gar nicht hineinpasst: Ushaiger.

Ich sitze mit einem Kulturbeamten in einem klimatisierten Büro in Riad. Er trägt einen makellosen weißen Thawb, das Smartphone liegt vor ihm, blinkt leise. „Ushaiger ist ein Symbol,“ sagt er, während er Zucker in seinen Kaffee rührt. „Ein Beispiel dafür, dass unsere Zukunft aus unserer Geschichte wachsen kann – nicht gegen sie.“ Sein Ton ist ruhig, fast einstudiert. Aber hinter den Worten liegt Stolz. „Lange Zeit haben wir nach Westen geschaut, nach Modernität. Jetzt schauen wir auch nach innen.“

Er zeigt mir auf dem Bildschirm ein Bild: Drohnenaufnahme von oben, das Dorf in warmem Licht, makellos restauriert. „So wollen wir, dass die Welt uns sieht,“ sagt er. „Traditionell, aber lebendig.“

Und doch, denke ich, während ich später zurückfahre, liegt in diesem Bild etwas Unruhiges. Kann man Geschichte planen? Kann man Authentizität kuratieren?

In Ushaiger selbst spürt man von dieser Programmatik wenig. Dort ist das Leben kleiner, direkter, echter. Aber die Veränderungen kommen, langsam, leise, manchmal mit einem Lächeln. Neue Schilder, neue Führungen, WLAN in der Nähe des Museums. Besucher aus Riad, aus Europa, aus Fernost. Reisebusse, die am Wochenende vor dem Tor parken.

Ich sehe sie, als ich wiederkomme: junge Familien mit Sonnenhüten, Männer mit Kameras, Kinder mit Eis. Eine Frau mit Designer-Handtasche macht ein Selfie vor einer Mauer, die wahrscheinlich älter ist als ihr Stammbaum. Neben ihr steht ein Mann aus dem Dorf, erklärt geduldig, was Lehm bedeutet. Sie hört zu, nickt höflich, tippt etwas in ihr Telefon.

Der Wandel ist sichtbar – und zugleich widersprüchlich. Für die einen ist er Befreiung: endlich Anerkennung, Entwicklung, Aufmerksamkeit. Für andere ist er der Anfang vom Ende der Stille.

Abends treffe ich Mohammed wieder. Er hat den Tag über Besucher geführt, ist müde, aber wach im Geist. Wir sitzen auf einer Bank, trinken Tee. „Früher,“ sagt er, „kannte man uns nicht. Jetzt kommen Leute aus der ganzen Welt. Sie fotografieren unsere Mauern, unsere Türen, unsere Gesichter. Ich freue mich – aber manchmal frage ich mich, ob sie wirklich sehen, was sie fotografieren.“

Er sieht mich an. „Weißt du, früher war Ushaiger eine Raststation für Pilger. Heute sind die Touristen neue Pilger. Nur dass sie nicht beten, sondern posten.“

Er lächelt, aber da ist ein Ernst in seinen Augen. „Man kann aus einem Ort ein Denkmal machen“, sagt er. „Aber man darf ihn nicht erstarren lassen. Sonst verliert er seine Seele.“

Ich erinnere mich an ähnliche Sätze aus anderen Teilen der Welt – in europäischen Altstädten, in Asiens Tempeln, in Afrikas Dörfern. Überall dieselbe Frage: Wie viel Gegenwart verträgt Vergangenheit?

Am nächsten Morgen spreche ich mit Fatimah, der Architektin. Sie ist zurückgekehrt, diesmal mit Skizzen unter dem Arm. Sie arbeitet an einem Projekt: neue Gästehäuser am Dorfrand, inspiriert von der alten Architektur, aber mit moderner Infrastruktur. „Ich will, dass Menschen hier schlafen, nicht nur durchlaufen,“ sagt sie. „Nur wenn man die Nacht hört – die Stille, die Kälte, die Sterne –, versteht man, warum diese Mauern so gebaut wurden.“ Sie zeichnet auf den Boden, Linien aus Sand: dicke Wände, kleine Fenster, zentrale Höfe. „Die Regierung will große Projekte, Hotels, Souvenirs. Ich will, dass sie begreifen, dass Schönheit hier in der Einfachheit liegt.“

Sie sieht mich an, ein leicht trotziges Lächeln. „Vielleicht bin ich naiv. Aber wenn wir nicht selbst definieren, was unser Erbe ist, dann tun es andere für uns.“

Ich laufe später durch das Dorf. Es ist Vormittag, das Licht klar, fast metallisch. Zwei Arbeiter erneuern eine Mauer. Ein Mann stellt eine Informationstafel auf. „Ushaiger Heritage Village – A Living Museum.“ Die Worte glänzen im Sonnenlicht. Ich bleibe stehen. Living Museum. Ein Widerspruch, denke ich, aber auch eine Hoffnung.

Denn das, was hier geschieht, ist nicht nur Restaurierung – es ist Identitätsarbeit. Saudi-Arabien, lange geprägt von Öl und Religion, sucht neue Erzählungen. Ushaiger bietet eine, die nicht aus Beton besteht: die Geschichte vom Ursprung, vom Wüstenleben, vom Miteinander.

Es gibt in dieser Bewegung eine leise, fast poetische Note. Junge Saudis, die Handwerk lernen. Alte Männer, die plötzlich Führer werden. Frauen, die ihre Familiengeschichte in Social-Media-Serien erzählen.
In einer Welt, in der Modernität oft bedeutet, die Vergangenheit zu löschen, wirkt Ushaiger wie eine sanfte Gegenrede.

Natürlich gibt es auch Skepsis. Ich spreche mit einem Journalisten aus Riad, der gerade eine Reportage dreht. „Viele dieser Projekte sind Schaufenster,“ sagt er. „Man restauriert, man inszeniert, aber man verändert nichts Grundlegendes. Es bleibt Symbolpolitik.“
Er zieht an seiner Zigarette, schaut auf den Horizont. „Aber vielleicht ist Symbolik der Anfang von Veränderung. Zumindest redet man wieder über Orte wie diesen.“

Und vielleicht ist genau das entscheidend: dass man wieder redet, wieder hinschaut, wieder spürt.

Abends stehe ich am Dorfrand, wo die letzten Häuser in Sand übergehen. Das Licht ist weich, der Himmel weitet sich. Im Hintergrund die Palmen, davor ein paar Kinder, die Fußball spielen. Eine Staubwolke zieht auf, ein Esel schreitet langsam vorbei. Ich sehe auf die Mauer, auf der „Ushaiger“ in schlichten arabischen Lettern steht – kein Logo, kein Design, einfach ein Name.

Es fällt mir auf, wie still die Moderne hier eintritt. Kein Paukenschlag, keine Großbaustellen. Nur kleine Schritte, fast unmerklich. Aber sie verändern das Leben, die Haltung, den Blick auf sich selbst.

Vielleicht ist das die eigentliche Revolution des Landes: nicht die Hochhäuser von Riad, sondern die Wiederentdeckung des Einfachen. Ein neues Selbstbewusstsein, das nicht in Glanz, sondern in Erdigkeit wurzelt.

Als der Abend ruht, sehe ich, wie die Lichter in den Gassen angehen – schwach, gelb, warm. Kinderstimmen verklingen, der Wind hebt sich. Der Duft von Tee und Rauch liegt in der Luft. Ich denke an Fatimah, an Mohammed, an alle, die zwischen den Zeiten leben.

Sie tragen kein Banner, sie halten keine Reden. Aber sie verändern ihr Land – leise, beharrlich, aus Lehm gebaut.

Reise ins Herz der Wüste

Die Straße nach Ushaiger ist ein Strich durch die Zeit. Links Wüste, rechts Wüste, dazwischen der Asphalt, der in der Hitze flimmert. Man fährt, und alles bewegt sich – und doch bleibt alles gleich. Vielleicht ist das die erste Lektion dieser Landschaft: Bewegung bedeutet hier nicht Veränderung. Sie ist nur eine andere Form von Stillstand.

Ich fahre früh los. Riad liegt hinter mir, noch verschlafen, die Sonne kaum über dem Horizont. Im Rückspiegel glitzern die neuen Türme der Stadt, Spiegel aus Glas und Ehrgeiz. Vor mir öffnet sich die Ebene – staubfarben, sanft gewellt, wie ein Meer aus Stein. Der Himmel darüber so weit, dass er fast einschüchtert.

Es gibt kaum Verkehr. Ein paar Laster, beladen mit Zement. Ein Toyota-Pick-up mit zwei Männern auf der Ladefläche, eingehüllt in Tücher. Sie winken, als sie vorbeifahren. Die Stille ist eigenartig dicht. Kein Vogel, kein Rascheln, nur das Summen des Motors. Ich drehe das Radio auf, höre eine Stimme, die Koranverse singt, tief, beruhigend, fast hypnotisch. Dann wieder Stille.

Irgendwo auf halber Strecke halte ich an. Kein Ort, nur ein kleiner Rastplatz aus Beton. Zwei Dattelpalmen, ein rostiger Wasserhahn, ein Schild: Shaqra – 30 km. Ich steige aus. Die Hitze legt sich sofort auf mich, als hätte jemand eine Decke aus Feuer über den Körper gezogen. Es riecht nach Staub, nach Salz, nach Metall. Und doch ist da etwas Lebendiges – die Luft bewegt sich, trägt Geschichten mit sich.

Ein alter Mann sitzt auf der Bank, das Gesicht verhüllt, eine Thermoskanne in der Hand. Ich grüße. Er hebt die Hand, nickt. „Auf dem Weg nach Ushaiger?“ fragt er. Ich bejahe. „Ah,“ sagt er, „das alte Dorf. Früher war dort der Brunnen, an dem alle Rast machten. Mein Großvater erzählte, das Wasser dort schmecke süßer als anderswo.“ Er schweigt kurz, sieht in die Ferne. „Aber wer weiß, ob das noch stimmt. Wasser verändert sich. Menschen auch.“

Er lächelt, als wolle er sich für seine eigenen Worte entschuldigen. Ich wünsche ihm einen guten Tag, steige wieder ins Auto.

Die letzten Kilometer ziehen sich. Die Sonne steht jetzt senkrecht, die Konturen flimmern. Dann plötzlich, wie eine Fata Morgana: grüne Streifen am Horizont, Palmen, ein paar Dächer. Ushaiger.

Ich parke am Dorfrand, steige aus. Der Wind trägt den Geruch von Datteln, Lehm, Holzrauch. Und obwohl ich den Ort kenne, wirkt er jedes Mal anders. Man betritt ihn, und die Welt verändert ihre Geschwindigkeit.

Ein Junge läuft vorbei, ein Bündel Brot auf dem Arm. Eine Frau gießt Wasser über Pflanzen. Ein Hund döst im Schatten. Alltägliches, unspektakulär – und doch von einer stillen Würde, die man in Städten selten findet.

Ich gehe durch die Gassen. Der Boden ist uneben, die Mauern schmal. Zwischen den Häusern fällt Licht in dünnen Streifen. Ein alter Lautsprecher hängt an einer Wand, rostig, aber funktionstüchtig. Aus ihm ertönt leise Musik – Oud-Klänge, langsam, schwebend.

Ich bleibe stehen. Das ist es: Die Wüste ist kein leerer Raum. Sie ist Klang, wenn man zuhört.

Später sitze ich auf einem Hügel oberhalb des Dorfes. Von hier aus sehe ich, wie sich die Landschaft in alle Richtungen verliert. Keine Zäune, keine Grenzen, nur Farben, die ineinanderfließen: Ocker, Gold, Grau, Rost. Die Sonne sinkt langsam, der Himmel wechselt von Weiß zu Orange, dann zu einem Blau, das fast schwarz ist.

Die Dämmerung kommt schnell. Im Dorf gehen erste Lichter an, winzige Punkte in der Weite. Ein paar Hunde bellen. Ein Motorrad zieht eine Staubfahne über den Sand, verschwindet.

Ich bleibe noch eine Weile sitzen. Hier draußen versteht man, warum die Menschen sich an diesen Ort gebunden fühlen. In einer Welt, die ständig nach Neuem sucht, wirkt die Wüste wie eine Mahnung zur Geduld. Sie ändert sich nicht, sie bleibt. Und gerade dadurch verändert sie den, der sie betritt.

Die Nacht fällt, lautlos. Sterne erscheinen, erst zögernd, dann in Scharen. Kein Ort für Eile. Kein Ort für Lärm. Der Wind frischt auf, kühl, fast zärtlich. Ich höre das Rascheln der Palmen, das ferne Brummen eines Generators.

In diesem Moment denke ich, dass die Wüste nicht leer ist, sondern nur ehrlich. Sie gibt nichts her, was man sich nicht verdient.

Später fahre ich weiter, ein paar Kilometer hinaus, wo das Licht der Dörfer verblasst. Ich halte an, schalte den Motor aus. Kein Ton. Nur Dunkelheit, ein Hauch Bewegung, der Himmel wie ein Teppich aus Lichtpunkten. Ich sitze still, atme.

Und in dieser Ruhe begreife ich, dass Ushaiger nicht nur ein Dorf ist. Es ist ein Punkt in einem größeren Ganzen, in einem Rhythmus aus Wind, Licht, Zeit. Ein Knoten, an dem sich Mensch und Landschaft berühren.

Wenn man lange genug hinschaut, sieht man, wie alles zusammenhängt: der Lehm, der Wind, das Wasser, der Glaube, die Geduld. Und man versteht, warum Menschen hier blieben, während andere gingen.

Ich fahre zurück, langsam, fast widerwillig. Im Rückspiegel sehe ich die Palmen kleiner werden, bis sie im Dunkel verschwinden.

Der Asphalt glänzt im Scheinwerferlicht. Der Wind dringt durch den Spalt im Fenster, bringt Sand herein.
Ich denke an die Stimmen, die ich gehört habe – an Mohammed, Fatimah, Rashid. Jede ihrer Geschichten ein Faden im gleichen Teppich.

In Riad wird das Leben lauter sein, schneller, klarer. Aber ich weiß, dass ich den Geruch des Lehms, das Pfeifen des Windes, den Geschmack des süßen Wassers im Kopf behalten werde.

Die Reise in die Wüste ist nie eine einfache Fahrt. Sie ist eine Rückkehr – nicht zu einem Ort, sondern zu einer Stille, die man vergessen hatte.

Die Ruhe nach dem Ruf des Muezzin

Der letzte Ruf des Muezzin schwebt durch das Dorf wie ein Faden aus Klang. Er zieht sich über die Mauern, verliert sich zwischen den Palmen, zerfällt in der Weite. Danach: nichts. Kein Auto, kein Gespräch, nur Wind.

Ich gehe durch die Gassen, die ich mittlerweile kenne. Jede Ecke, jeder Schatten ist vertraut, und doch wirkt alles anders, wenn das Licht verschwindet. Die Lehmwände speichern noch ein bisschen Wärme, sie riechen nach Sonne, nach Staub, nach Leben. Über den Dächern steht ein Mond, groß und blass, als wäre er selbst aus Lehm geformt.

Vor einem Haus sitzen zwei alte Männer auf einer Bank. Zwischen ihnen ein Teller Datteln, eine Thermoskanne, zwei kleine Gläser. „Setz dich,“ sagt einer. Seine Stimme ist heiser, freundlich. Ich tue es. Der Tee ist heiß, stark, mit Kardamom. Er schmeckt nach Erde und Geduld.

„Früher,“ sagt der andere, „hörte man nach dem Gebet noch lange die Stimmen. Kinder, Frauen, Nachbarn. Jetzt sind es weniger geworden.“ Er lächelt, ohne Bitterkeit. „Aber weißt du, das Dorf hat eine eigene Stimme. Wenn du still bist, hörst du sie wieder.“

Wir sitzen schweigend. Irgendwo klirrt Metall, ein Hund bellt. Das genügt, um das Schweigen lebendig zu machen.

Ich schaue auf ihre Gesichter – gezeichnet, ruhig. In ihren Falten steckt Zeit, nicht Alter. Sie gehören zu jenen, die das Dorf nicht verlassen haben, als alle gingen. „Man kann Häuser wieder aufbauen,“ sagt der eine, „aber eine Gemeinschaft… die wächst langsam.“

Die Worte bleiben in der Luft hängen, schwer wie Sand vor einem Sturm.

Ich denke an all die Hände, die diese Mauern gebaut haben, an die Stimmen, die sie bewohnt haben. Und daran, wie viel Mühe es kostet, die Vergangenheit nicht zu verlieren, wenn die Gegenwart lockt.

Später gehe ich allein weiter. Der Wind trägt den Geruch von Holzrauch und warmem Brot. Über einem Dach knarrt ein altes Windrad. In einem Innenhof summt eine Lampe. Ich sehe in die Fenster – Familien beim Abendessen, Kinder, die lachen. Das Leben hat sich zurückgeschlichen, leise, fast unauffällig.

Ich stehe vor dem Nordtor, dem gleichen, durch das ich an meinem ersten Tag gegangen bin. Draußen die Dunkelheit der Wüste, drinnen das milde Licht der Häuser. Es ist ein Augenblick, in dem beides sich begegnet – Vergangenheit und Gegenwart, Stille und Atem.

Ich denke an Mohammed, an seine Worte über die Pilger, die hier Rast machten. Vielleicht sind wir alle auf der Durchreise. Nur dass manche Orte uns zwingen, stehenzubleiben, um zu verstehen, wohin wir unterwegs sind.

Der Wind wird stärker. Sand streift über den Boden, fegt über meine Schuhe. Ich ziehe das Tuch enger um den Hals. Hinter mir schließt jemand eine Tür. Ein dumpfes Klicken, dann wieder Ruhe.

Über den Palmen glimmt der Himmel, noch ein Rest von Blau. Dann Dunkelheit.

Ich drehe mich noch einmal um. Das Dorf leuchtet schwach im Mondschein, die Mauern wie aus Licht geformt. Ein leises Rascheln, das Atmen der Nacht. Und ich denke, dass man Orte wie diesen nicht besucht – man begegnet ihnen.

Sie lassen einen nicht los, wenn man fortgeht. Sie bleiben im Staub der Schuhe, im Geruch der Hände, im Gedächtnis wie ein Echo.

Ushaiger – ein Name, der klingt wie ein Atemzug. Ein Ort, der nichts beweisen will, nur bestehen. Ein Stück Welt, das zeigt, dass Stille nicht das Gegenteil von Leben ist, sondern seine Quelle.

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