Wenn Vergangenheit und Gegenwart gemeinsam feiern

Wer um die Jahreswende durch Taipeh läuft, spürt sofort: Hier liegt mehr als nur Feiertagsstimmung in der Luft. Ein ganzes Land scheint aufzuwachen – erfüllt von Vorfreude, Räucherduft und dem Schimmer unzähliger roter Laternen. Das chinesische Neujahrsfestival, Chūnjié (春节), ist Taiwans Herzstück des Jahres: eine Zeit der Familie, der Ahnen und der Erneuerung.
Der Rhythmus der chinesischen Kultur
Das chinesische Neujahr ist kein Datum, das man einfach im Kalender abhakt – es ist ein Übergang im Denken. Während der Westen linear zählt, folgt die chinesische Kultur dem Zyklus der Natur. Alles kehrt wieder: Licht nach Dunkel, Frühling nach Winter, Glück nach Mühe.
Der traditionelle Lunisolarkalender richtet sich nach den Mondphasen. Das neue Jahr beginnt zwischen Ende Januar und Mitte Februar – mit dem zweiten Neumond nach der Wintersonnenwende. Jeder Jahreszyklus steht unter einem der zwölf Tierkreiszeichen und einem von fünf Elementen (Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser). Diese Verbindung von Kosmos, Zeit und Charakter prägt den Alltag bis heute – von Geschäftsentscheidungen bis zur Hochzeit.
Ein Land im Feiertakt
Schon Wochen vor dem Neujahr verwandelt sich Taiwan in ein Land im Feiertakt. Häuser werden geputzt, Altlasten beseitigt, alte Rechnungen beglichen. Man bereitet sich nicht nur äußerlich, sondern innerlich auf den Neubeginn vor.
Auf Märkten wie dem Dihua-Markt in Taipeh drängen sich Menschen zwischen Räucherstäbchen, Glücksamulette und Süßigkeiten. Rot dominiert das Straßenbild – die Farbe des Glücks, die böse Geister fernhält. Goldene Schriftzeichen versprechen Wohlstand und Langlebigkeit.
In den Dörfern im Süden, etwa in Tainan, bereiten sich Tempelgemeinschaften auf Prozessionen vor. Trommeln werden geprüft, Drachenkostüme ausgebessert, Opfergaben gesammelt. Jede Region Taiwans hat ihre eigene Note – laut und ausgelassen im Norden, spirituell und erdig im Süden. Doch überall gilt: Man vertreibt das Alte, um Platz für das Gute zu schaffen.
In der gesamten ostasiatischen Region – von Vietnams Tết-Fest bis Koreas Seollal – feiert man ähnliche Werte: Familie, Ahnen, Neubeginn. Aber Taiwan bewahrt dabei eine besondere Tiefe. Hier verschmelzen Tradition und Moderne so organisch, dass sie sich gegenseitig stärken.
Familie, Ahnen und gutes Essen
Der Neujahrsvorabend – Chúxī (除夕) – ist der heiligste Moment des Jahres. Wer kann, reist nach Hause, egal, wie weit der Weg ist. Generationen versammeln sich unter einem Dach – das Zuhause wird zum Zentrum des Universums.
Vor dem Essen wird es still. Am Familienaltar entzündet man Räucherstäbchen und stellt Opfergaben auf: Tee, Obst, Wein, Süßigkeiten. Damit werden die Ahnen eingeladen, am Fest teilzunehmen. Man bittet um Schutz, Dank und Segen – eine intime Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Dann beginnt das Tuan Yuan Fan (团圆饭) – das Wiedervereinigungsessen. Ältere sitzen an Ehrenplätzen, die Jüngeren bedienen, reichen Tee und stoßen erst an, wenn die Älteren zustimmen. Es ist gelebter Konfuzianismus – Respekt, Ordnung, Harmonie.
Das Menü ist ein Gedicht aus Symbolen:
- Fisch (鱼, yú) steht für Überfluss und wird nie ganz aufgegessen.
- Reiskuchen (年糕, niángāo) verspricht wachsenden Wohlstand.
- Dumplings (饺子, jiǎozi) ähneln alten Silberbarren – Sinnbild des Reichtums.
Nach dem Essen bleibt man wach – spielt Mahjong, erzählt Geschichten, lacht. Kinder erhalten rote Umschläge, die Hóngbāo, gefüllt mit Geld und guten Wünschen. Es ist kein Geschenk, sondern ein Segen: ein Versprechen, dass Glück weitergegeben wird.
Wenn die Geister reisen
Im chinesischen Weltbild leben die Geister der Ahnen mitten unter uns. Sie begleiten, schützen, mahnen. Darum wird das Neujahr auch als Zeit der geistigen Erneuerung verstanden – man reinigt nicht nur das Haus, sondern auch die Verbindung zwischen den Welten.
Räucherstäbchen, Feuerwerk und Gebete sind keine Folklore. Sie sind Kommunikation – Botschaften an die Geisterwelt. Wenn der Rauch aufsteigt, steigen auch Dank und Bitten der Menschen.
Man unterscheidet gute, wohlwollende Ahnengeister von ruhelosen, vergessenen Seelen. Letztere sollen nicht stören – also macht man Lärm. Knallkörper und Trommeln vertreiben das Unheil, Feuerwerk erhellt symbolisch die Schatten.
In ganz Taiwan sieht man in diesen Tagen die Tempel glühen. Familien verbrennen Papiergeld oder kleine Papierhäuser – Geschenke für das Jenseits. Es ist ein Akt der Liebe über den Tod hinaus. Denn wer die Geister ehrt, ehrt auch das eigene Leben.
Laternen, Drachen und Licht
Fünfzehn Tage nach dem Neujahr erreicht das Fest seinen Höhepunkt: das Laternenfest (Yuánxiāo Jié, 元宵节). Der erste Vollmond des Jahres steigt auf – und mit ihm das Licht der Hoffnung.
Laternen stehen für Weisheit, Glück und die Erleuchtung des Lebenswegs. Familien basteln sie gemeinsam oder kaufen kunstvolle Werke aus Papier und Bambus. In den Tempeln werden kleine rote Laternen mit Familiennamen aufgehängt – als Bitte um Schutz im neuen Jahr.
Wenn die Nacht hereinbricht, verwandelt sich Taiwan in ein leuchtendes Wunderland. Besonders im Ort Pingxi steigen unzählige Himmelslaternen in den Himmel. Auf jede Laterne werden Wünsche geschrieben: Liebe, Gesundheit, Erfolg. Wenn sie aufsteigen, trägt der Wind die Hoffnung fort – ein stiller Moment, in dem selbst das lauteste Herz ruhig wird.
Zum Fest gehören auch Tangyuan (汤圆) – süße Reisbällchen in warmer Brühe. Ihre runde Form symbolisiert die Einheit der Familie. Wer sie isst, wünscht sich Zusammenhalt und Harmonie für das kommende Jahr.
Ein beliebtes Spiel sind die Laternenrätsel (猜灯谜) – kleine Sprichwörter oder Fragen, die an Laternen hängen. Wer sie löst, gewinnt kleine Preise – eine spielerische Erinnerung daran, dass Wissen und Neugier Licht ins Leben bringen.
Das Laternenfest ist kein Abschied, sondern ein Neubeginn. Nach den Tagen des Lichts beginnt der Alltag wieder – gereinigt, gestärkt und hoffnungsvoll.
Eine Brücke zwischen den Zeiten
Das chinesische Neujahrsfestival auf Taiwan ist ein lebendiges Symbol dafür, wie eine Gesellschaft ihre Wurzeln bewahren und zugleich modern leben kann. In den Straßen Taipehs sieht man junge Menschen mit Smartphones und Räucherstäbchen – digital und spirituell zugleich.
Tradition ist hier kein Anker, der festhält, sondern ein Fundament, auf dem Neues entsteht. Junge Künstler schaffen nachhaltige Laternen, Musiker mischen Trommeln mit Elektrosounds, Start-ups digitalisieren Tempelspenden – alles mit dem Ziel, Altes lebendig zu halten.
Nach dem Fest kehrt das Leben zurück in Büros, Fabriken und Schulen. Doch niemand hat das Gefühl, etwas hinter sich zu lassen. Denn das Neujahrsfest ist kein nostalgischer Blick zurück, sondern ein bewusster Schritt nach vorn – getragen vom Wissen, woher man kommt.
So baut Taiwan seine Brücke zwischen den Zeiten – aus Licht, Erinnerung und Vertrauen. Und vielleicht ist das die schönste Lehre dieses Festes:
Ein gutes neues Jahr beginnt nicht, wenn die Raketen zischen – sondern wenn Dankbarkeit, Demut und Hoffnung Hand in Hand gehen.
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