Silvester in Saigon – Countdown zwischen Tropennacht und Tradition

Autor: Torsten Matzak

Unserer Reisenotizen
Nr. 12-10/2025

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Die letzte Nacht des Jahres

Der Abend kommt nicht leise. Er drückt. Er hängt in der Luft wie eine feuchte Decke, die keinem gehört und jeden betrifft. Über dem Saigon River liegt ein dünner Schleier, nicht Nebel, eher feiner Staub, der das Licht bricht und die Stadt weicher macht, als sie ist. Auf dem Nguyen Hue Boulevard schiebt sich eine Masse vorwärts, die keine Eile hat und doch nicht stehen bleiben kann. Menschen, so weit der Blick reicht: Jugendliche mit blinkenden Haarreifen, Eltern mit aufgeregten Kindern, Männer, die ganze Kartons mit Plastiktröten auf den Schultern tragen. Ein Junge hält eine Tüte mit glitzernden Zahlen hoch – 2, 0, 2, 6 – der Kunststoff riecht nach Lösungsmittel. Daneben zischt ein fahrbarer Zuckerrohrpressen-Motor, presst Saft in Plastikbecher, Eis klirrt in Eimern. Das Geräusch der Stadt ist kein Hintergrund, es ist die Hauptsache.

Vom Bitexco Financial Tower blinken rote Punkte. Die Glasfassade ist ein Spiegel der Straße, das Innere unsichtbar. Auf einem LED-Band laufen Werbeanimationen, Glückssymbole, ein Countdown, der noch nichts zählt. In einer Seitenstraße ringt ein Händler mit einer Lichterkette, die sich verheddert hat. „Später,“ sagt er, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem, „später sieht das gut aus.“ Eine Kollegin verkauft Stirnbänder mit leuchtenden Teufelshörnern. „Für Fotos“, sagt sie, „alles ist für Fotos.“

Gegen 19 Uhr sind die Gehwege voll. Polizisten in grünlichen Uniformen stehen an den Übergängen, heben die Arme, pfeifen, zeigen Richtungen an, die niemand einhalten will. Zwei junge Männer ziehen eine fahrbare Box mit Lautsprecher hinter sich her. Vietnamesischer Pop hämmert, dann plötzlich „Happy New Year“ von ABBA, und für zwei Minuten singen Leute mit, die den Text halb kennen und halb erfinden. Ein Mann in Flipflops hält eine improvisierte Bar auf einem Fahrrad im Gleichgewicht. Limetten, Minze, Eis. „Wenn die Raketen über dem Saigon River aufsteigen“, sagt er, während er eine Handvoll Eiswürfel schaufelt, „scheint die Stadt für einen Moment zu vergessen, dass das neue Jahr noch gar nicht das echte ist.“ Er lacht, nicht zynisch, eher wissend. „Aber vergessen ist manchmal gut.“

Ein paar Straßen weiter, an der Ecke Ton Duc Thang, sitzt eine Familie auf zusammengefalteten Pappkartons. Die Kinder essen gebratene Maiskörner aus Papiertüten, die Mutter hält das Telefon in der Hand, filmt die vorbeiziehende Menge. Hinter ihnen dröhnt ein Generator. Ein junger Mann mit Motorradhelm, den er nicht abnimmt, stützt sich auf sein Moped und schaut über die Masse. „Zu voll,“ sagt er zu niemand Bestimmtem. „Aber jedes Jahr das Gleiche. Zu voll ist Silvester.“ Er lächelt und bleibt.

Saigon, offiziell Ho-Chi-Minh-Stadt, trägt zwei Namen, je nach Satz und Sprecher. Heute Nacht interessiert das niemanden. Die Stadt ist eine Bühne, die Bühne gehört allen. Hotels am Boulevard haben glatte Glasfronten, die mit Styroporschneeflocken beklebt sind, drinnen läuft Klimaanlage, draußen schwitzen Menschen auf Plastikstühlen. Eine Kellnerin trägt eine Tablette voller Flaschen über den Bordstein, balanciert sie an einer Gruppe vorbeizirkulierender Teenager, die ihrerseits mit Selfiesticks jonglieren. Alles bewegt sich, alles will aneinander vorbei, niemand drängt grob. Die Nähe gehört dazu, sie ist Bedingung und Beweis.

Auf dem Mittelstreifen des Boulevards sind beidseitig Blumeninstallationen aufgebaut, flache Becken, in denen Wasser über Kanten rinnt. Ein Kind versucht, einen Luftballon in die Rinne fallen zu lassen. Die Mutter zieht am Band, das Kind lacht, der Ballon bleibt trocken. Mehrere junge Frauen posieren vor einem überdimensionalen Schriftzug aus Lichtern. Eine von ihnen ordnet das Haar der anderen, fingert an einem silbrigen Kleid, das eigentlich ein Shirt ist. „Schneller“, sagt sie und zeigt auf den Bildschirm. „Das Netz ist langsam.“ Der Satz sagt, was die Stunde weiß: Heute ist eine digitale Nacht.

Gegen halb neun wird die Straße zu einer Welle. Nicht nur Menschen, auch Mopeds drängen in Zonen, die eigentlich abgesperrt sind. Die Sirene eines Polizeiwagens heult kurz auf, hört sofort wieder auf. Ein Offizier mit Klemmbrett winkt ab, lächelt, hebt dann wieder die Hand. „Stopp,“ ruft er vietnamesisch, „Stopp, langsam.“ Seine Stimme geht unter. Eine junge Frau im roten Kleid bleibt unmittelbar davor stehen, dreht sich zu ihrer Freundin um: „Noch eins mit dem Turm, dann zum Fluss.“

Am Saigon River ist das Ufer gefüllt. Der Asphalt gibt die Wärme des Tages zurück, als hätte er sie gespeichert. Händler stellen neue Kartons hin: gebratene Reisflocken, Popcorn, Dosenbier, Stäbchen mit Fischbällchen. Rauch hängt in der Luft. Ein älterer Mann mit Schiebermütze sitzt auf einem Hocker und fädelt kleine LED-Luftballons auf Stäbe. „Letztes Jahr war es ruhiger“, sagt er und hält inne. „Oder vielleicht war ich langsamer.“ Jemand kauft ohne zu handeln. Ein kleines Mädchen bekommt einen Ballon, dessen Licht wie ein langsamer Puls durch den dünnen Kunststoff wandert. „Halt fest“, sagt der Vater, „nicht loslassen, egal was passiert.“

Die Stunden vor Mitternacht sind der eigentliche Kern des Abends. Es geschieht nichts Besonderes und gerade darin alles. Treffen und Warten. Schieben und Stehen. Ein großes, organisiertes Driften. Auf der Promenade entlang des Flusses laufen Paare parallel, ohne sich zu berühren. Ein Straßenmusiker spielt auf einer Gitarre, deren Decke gesprungen ist. Sein Verstärker kratzt. Er versucht „Hotel California“, das Publikum nickt höflich. Daneben verkauft eine Frau reihenweise helle Schutzmasken. „Für später“, sagt sie, „wenn es staubt.“ Ein Witz, der keiner ist: Das Feuerwerk wird den Rauch bringen, der Rauch bleibt.

Um kurz vor zehn beginnt die erste von mehreren Bühnen auf dem Boulevard mit einem Countdown zur Vorband. Ein Moderator schießt Sätze in die Menge, die Menge gibt Geräusch zurück. Die LED-Wände zeigen schnelle Schnitte: Flaggen, Sterne, Gesichter, die in die Kamera lächeln. An den Rändern der Szene stehen Männer mit gelben Westen, tragen Sprechfunkgeräte, die sie selten zum Sprechen benutzen. Einer blickt zu seinem Kollegen. „Diesmal mehr Touristen“, sagt er. „Und mehr Kinder.“ Der Kollege nickt, zählt irgendetwas auf einem Blatt Kreuze ab. „Mehr von allem.“

Eine Seitenstraße: eine Gruppe junger Männer trägt einen Lautsprecher auf dem Gepäckträger eines Mopeds. Der Bass ist übersteuert. „Nur bis Mitternacht,“ ruft einer, „danach sind wir leiser.“ Ein älterer Herr in einer kühlen, kurzärmeligen Hemdbluse hebt die Hand und dreht sie in der Luft, so als zöge er imaginäre Vorhänge zu. „Leiser, leiser“, sagt er. Die jungen Männer nicken, drehen den Regler vielleicht um einen Millimeter zurück. Das Hemden-Mann-Gesicht entspannt sich minimal. Er bleibt, verschränkt die Arme, schaut in die Menge, die Menge nimmt keine Notiz.

An einer Kreuzung warten Mopeds wie Pferde in einer Linie, die nie abgerufen wird. Fahrer mit Helmen, Fahrerinnen mit Helmen, niemand steigt ab. „Da vorne stehen meine Freunde“, sagt ein Fahrer, „ich komme da nicht hin.“ Er lacht, schaltet in den Leerlauf, lässt den Motor laufen. Eine Frau mit einer Styroporbox ruft: „Fischbällchen! Heiß!“ Ein Junge im Basketballtrikot – die Nummer ist verblasst – hält inne, kauft, bezahlt in kleinen Scheinen. Die Box ist warm, es riecht nach Frittieröl und etwas Süßlichem, das nicht zu benennen ist.

Gegen halb elf fließt eine zusätzliche Schicht Menschen vom Ben-Thanh-Markt her in die Straßen. Das hat Rhythmus: erst der Boulevard, dann die Schübe aus den Märkten, dann die letzte Welle aus Bars und Restaurants. Dinge ordnen sich von selbst, solange niemand versucht, sie zu ordnen. Taxis stehen fest, Türen offen, Klimaanlagen laufen, Fahrer schlafen mit offenen Augen. Ein Tourist mit Sonnenbrand fragt einen Polizisten nach dem Weg zum Fluss. Der Polizist deutet vage, es ist ohnehin nur eine Richtung möglich: abwärts, wo das Wasser ist, wo später das Licht aufgehen soll.

Zwischen all dem: einzelne, sehr ruhige Menschen. Eine Frau in einem blauen Kleid sitzt auf einer Betonstufe, die eine Pflanzinsel begrenzt, und schreibt auf Papier. Kein Telefon, ein Stift. Die Schrift ist klein und dicht. Daneben steht eine leere Wasserflasche. Niemand beachtet sie. Ein Mann mit einer Reinigungszange hebt einen gelben Strohhalm vom Boden und legt ihn in einen transparenten Sack, in dem schon viele gelbe Strohhalme liegen. „Heute Nacht“, sagt er, „ist meine Nacht lang.“ Er lächelt nicht, wirkt nicht unzufrieden. Er macht einfach weiter.

Mit jedem Viertelstundenschritt steigt der Ton. Die Bühne am nördlichen Ende des Boulevards wirft Laser in die Luft, die Luft wirft sie zurück, gebrochen an Partikeln. Eine Gruppe von Studentinnen hat Papierkronen auf. „Wir zählen laut“, sagt eine, „dann hören wir uns, auch wenn es knallt.“ Jemand übt schon das Zählen: „Zehn, neun, acht…“ Es wirkt wie eine Probe für etwas, das keiner kontrolliert und alle erwarten. Ein Mann mittleren Alters telefoniert mit jemandem, der schon am Fluss ist. „Haltet Plätze frei,“ ruft er, „wir sind zu fünft.“

Die letzten fünf Minuten vor Mitternacht sind eine Verdichtung aus Vorfreude und Müdigkeit. Zwei Kinder schlafen im Sitzen, ihre Köpfe an den Schultern der Eltern. Ein junger Mann hält zwei Becher Bier, einer kippt leicht, er balanciert nach, rettet die Schaumkronen. Ein Sprecher auf einer Bühne kündigt die „letzten Minuten“ an, als wären es die ersten. Dann bricht die Musik ab. Es ist nicht ganz still, weil nichts hier jemals ganz still ist, aber der Lärm fällt unter eine Grenze, die er zuvor nicht unterschritten hat. Jemand zählt die letzten zehn Sekunden. Diesmal zählen alle mit, auch die, die kein Vietnamesisch sprechen, auch die, die es hören und nur die Hand heben.

Das erste Feuerwerk ist breit und gold. Dann blau, rot, silbern. Die Raketen spiegeln sich im Fluss, als läge dort eine zweite Stadt auf dem Rücken. Menschen heben Telefone, halten sie ruhig, versuchen, nicht zu wackeln. Ein Junge schreit vor Freude, laut, klar, ohne Angst, sein Vater lacht und schreit mit. „Neu!“, ruft jemand, „neu, neu, neu!“ Eine Frau küsst ihren Partner und schaut gleichzeitig in die Kamera. Auf einer Brücke bleiben Mopeds stehen, trotz Verbotsschildern, die seit Jahren niemand liest. Ein Polizist hebt die Hand, lässt sie sinken.

Das Feuerwerk dauert lange genug, um in mehreren Wellen zu wirken. Jedes Mal, wenn man glaubt, das Ende sei erreicht, beginnt eine weitere Serie. Goldene Kaskaden, die im Rauch stehen bleiben. Kurze knatternde Salven. Ein finales Weiß, das die Gesichter für Sekunden grell macht. Danach fällt der Rauch wie ein Vorhang zurück auf das Wasser und die Straße. Jemand hustet, jemand lacht, jemand ruft in ein Telefon, das kein Empfang hat. Für einen Moment scheint die Stadt wirklich zu vergessen, was später alle wieder wissen: Das echte Neujahr kommt erst noch.

Das Ende ist kein Ende. Die Musik setzt wieder ein, ein anderer Song, eine andere Lautstärke. Viele Menschen bleiben stehen, als warteten sie auf eine zweite Mitternacht. Andere lösen sich, langsam, strömen in die Seitenstraßen, suchen Getränke, Toiletten, freie Stufen am Fluss. Ein Mann mit einer silbernen Pappkrone sammelt leere Dosen in einem Müllsack. „Gute Nacht,“ sagt er zu einem Fremden, der ihn ansieht. Der Fremde nickt und sagt: „Gutes Geschäft?“ Der Mann hebt den Sack an, in dem es leise klingelt. „Geht so“, sagt er. „Morgen ist auch noch Tag.“

Über dem Boulevard schweben Ballons, die jemand losgelassen hat. Sie steigen gerade, dann schräg, verschwinden nicht. Die Luft hält sie. In einer Gasse fächert sich eine Gruppe Jugendliche mit ihren Händen Luft zu, als könnten sie sie bewegen. Eine Frau zündet auf dem Gehweg eine Räucherkerze an, sehr dünn, sie hält sie mit zwei Fingern, setzt sie in ein winziges, rotes Plastikgefäß, das eine Lotosblüte imitiert. Sie beugt den Kopf kurz. Niemand fragt warum. Ein Mann zieht sein Hemd aus und legt es einem kleinen, eingeschlafenen Kind über die Schultern. Jemand startet einen Motor, der nicht anspringt, lacht, versucht es noch einmal. Die Nacht ist warm und wird nicht kälter.

Später, weit nach Mitternacht, wenn die Bühne schon abgebaut wird und ein Kabel über den Gehweg schleift, sitzen noch immer Menschen am Fluss. Ein Paar teilt eine Flasche Wasser. Ein Straßenmusiker, der zuvor Gitarre spielte, hält nun eine Mundharmonika an den Mund und sucht eine Melodie, die zur Stunde passt und nichts fordert. Auf der Wasseroberfläche treiben kleine Inseln aus Papierschnipseln und Asche. Auf der Promenade fegt ein Mann einen halbkreisförmigen Streifen frei, so, als würde er eine Spur ziehen, der niemand folgen muss. Die Stadt wird langsam wieder zu dem, was sie die übrigen Nächte ist: ein Ort, der nie genau endet.

Zwei Kalender – zwei Neujahre

Vietnam zählt zweimal. Der westliche Kalender ist praktisch, verbindlich, international. Er steuert Flugpläne, Fristen, Arbeitsverträge. Er macht die Welt kompatibel. Daneben existiert der andere, der Mondkalender, den man nicht „alt“ nennt, weil er nicht veraltet ist. Er bestimmt Tết Nguyên Đán, das vietnamesische Neujahr, und mit ihm alles, was als wesentlich gilt: Heimkehr, Versöhnung, Reinigung, Beginn.

Das Silvester im gregorianischen Sinn – der 31. Dezember – kam mit der Kolonialzeit. Französische Beamte brachten nicht nur Verwaltungslogik, Straßen und Kataster, sondern auch eine Vorstellung von Zeit, die sich in Zahlen abbilden lässt, unabhängig von Regen, Monsun, Ernte. In Saigon wurde sie früh heimisch. Handel liebt Verlässlichkeit. Später, während der amerikanischen Jahre, trug das westliche Neujahr ein anderes Gesicht: Rooftop-Partys, Musik aus Transistorradios, ein Blick auf das Feuerwerk, während am Stadtrand Krieg stattfand. Zeit war damals nicht nur Kalender, sondern auch Fluchtpunkt.

Mit 1975 änderte sich die Oberfläche: neue Fahnen, neue Feiertage, eine neue, staatlich verordnete Ordnung der Symbole. Der gregorianische Jahreswechsel verlor an Bedeutung. Er verschwand nie ganz, er trat zurück. Man feierte, wenn überhaupt, im Privaten, leise, ohne großen Aufwand. Tết blieb, unerschütterlich, als Zentrum des Jahres, geschützt von der Tiefe der Gewohnheit.

Die wirtschaftlichen Reformen Đi Mi – 1986 als offizielle Zäsur, in der Praxis ein Prozess – brachten den Alltag zurück an die Oberfläche. Märkte öffneten sich, Privates durfte wieder öffentlich sein, Konsum wurde nicht nur geduldet, sondern gebraucht. Mit der wachsenden Stadtgesellschaft, der neuen Mittelklasse, den globalen Bildern kehrte auch das westliche Silvester zurück, nicht als religiöses Ritual, sondern als städtisches Event. In Ho-Chi-Minh-Stadt – im Sprachgebrauch vieler weiterhin Saigon – passte es nahtlos. Eine Stadt, die Tempo liebt, nahm ein Fest, das vom Moment lebt.

Was unterscheidet beide Neujahre für die Menschen, die hier leben? Man kann es in einem Taxi hören. „Wir haben zwei Neujahre,“ sagt ein Fahrer, die Augen auf den Rückspiegel, „eines für die Straße, eines für das Haus.“ Er meint damit: Silvester gehört dem öffentlichen Raum, Tết dem privaten. Auf dem Boulevard zählt man mit, am Familientisch zählt man Menschen, die anwesend sind oder fehlen. Der Unterschied ist nicht trivial. Er markiert zwei Arten von Zugehörigkeit: die spontane, flüchtige Gemeinschaft der Stadt und die tiefe, verpflichtende Gemeinschaft der Familie.

Tết* folgt dem Mond, und damit einem Rhythmus, der sich mit dem Klima deckt. Wenn im Norden der Frühling beginnt und im Süden die Luft klarer wird, werden Häuser gereinigt, Altäre neu geschmückt, Schulden beglichen. Auf den Märkten tauchen Pfirsichblüten (im Norden) und gelbe Ochna-Blüten (im Süden) auf, Mandarinbäumchen werden auf Mopeds nach Hause balanciert. Es ist ein kultureller Umlauf, der Handel, Gefühl und Glaube verbindet. Der 31. Dezember hat das nicht. Er kennt keine Ahnen, keine Opfergaben, keine Küchengötter, die am 23. Tag des letzten Mondmonats zum Himmel zurückkehren, um Bericht zu erstatten. Der 31. ist Effekt, nicht Ritual. Ein kollektiver Atemzug, bevor der echte Takt wieder übernimmt.

Trotzdem ist Silvester nicht bloß Kopie. Es hat eine Funktion. In einer Gesellschaft, die noch vor einer Generation auf kollektive Kontrolle getrimmt war, bietet es einen Raum für öffentlichen Jubel, der nichts fordert außer Anwesenheit. Kein Geschenkzwang, kein Verwandtschaftsprotokoll, keine Bekleidungsregel, außer: etwas Neues wäre schön. Es ist die leichte Seite des Neuanfangs, die spielerische. Auf dem Boulevard zählt man in die Luft, am Tết-Tisch zählt man Erwartungen.

In Gesprächen fallen die gleichen Worte, in unterschiedlichen Sätzen. „Modern“, sagen die einen, „staatsfern“, sagen andere. „Urban“, sagen fast alle. Silvester ist eine städtische Angelegenheit. In den Provinzen gibt es kleinere Feuerwerke, lokale Bühnen, aber der große Puls sitzt hier, am Saigon River, zwischen Glas und Beton, zwischen Food-Ständen und Luxusläden. Das Fest ist ein Spiegel der Stadt, die es trägt: heterogen, laut, pragmatisch. Wenn die Straßen sich füllen, füllt sich auch die Erzählung von Zugehörigkeit: Wer hier ist, gehört dazu. Für eine Nacht sind Herkunft und Status weniger sichtbar.

Dass viele Menschen beide Feste feiern, ist kein Widerspruch, sondern Logik. „Eines ist für Spaß,“ sagt eine Studentin, die an einem Straßenstand Milchtee umrührt, „eines ist für Respekt.“ Sie zieht an einem Strohhalm, denkt nach. „Beides braucht man.“ Ein älterer Mann, der daneben wartet, ergänzt: „Und eines ist für Fotos.“ Er zeigt auf den Boulevard, auf die Telefone, die über Köpfen schweben. Später, am Tết, wird niemand Instagram brauchen, um zu wissen, dass etwas wichtig ist. Wichtigkeit ist dann fühlbar, ohne Bild.

Die Koexistenz der Kalender verändert die Stadt kaum sichtbar und doch deutlich. Behörden arbeiten am 31. Dezember weiter, Banken schließen vielleicht früher, Schulen bleiben offen. Das Feuerwerk ist genehmigt, die Bühne beantragt, die Polizei verteilt. Aber es ist kein staatlicher Festakt. Es ist ein zugelassener Überschwang. Tết dagegen ist verwaltete, tief codierte Auszeit: Tage stehen still, Tickets sind Wochen im Voraus ausverkauft, Straßen leer, in denen sonst kein Zentimeter frei ist.

Für Touristen und Expats ist die Unterscheidung oft verwirrend. Warum so viel Aufwand jetzt, wenn das „echte“ Neujahr später ist? Die Antwort steckt in der Praxis: Menschen brauchen Gelegenheiten, an denen sie sich als Stadt erleben können. Silvester in Saigon gibt diese Gelegenheit ohne Verpflichtung. Tết gibt Verpflichtung ohne Öffentlichkeit. In einem Land, das seine Rituale überlebt, indem es sie pragmatisch behandelt, ist beides kein Widerspruch, sondern Arbeitsteilung.

Und doch gibt es ein leises, verbindendes Motiv: die Idee des Lichts. Nicht als religiöses Symbol, sondern als sozialer Marker. Licht bedeutet: Wir sind da. Im Dezember und Anfang Januar hängen Lichterketten über Straßen, an Fassaden, zwischen Bäumen. Sie sind nicht winterlich, sie sind tropisch – hartes LED, oft blau, manchmal pink, selten warmweiß. Später, im Tết, wird Licht rot und gold, es wird Symbol und Glücksversprechen. Dass Saigon beides trägt, macht Sinn: eine Stadt, die jeden Tag länger arbeitet als geplant, kennt keine ausschließlichen Zeichen. Sie sammelt und verteilt.

Am Morgen nach dem 31. Dezember fährt ein Straßenreiniger auf einem kleinen, offenen Fahrzeug eine Runde um den Boulevard. Auf der Ladefläche liegen schwarze Säcke, ordentlich geschichtet. Er blickt kurz nach oben, wo die LED-Schrift noch eine Weile das neue Jahr hält, bevor jemand den Stecker zieht. „In vier Wochen,“ sagt er, „wird es noch ruhiger sein als heute Nacht laut war.“ Er meint Tết. Dann wird die Stadt, die nie schläft, so still, dass man seinen Besen über den Asphalt hören kann. Zwei Kalender, zwei Geräuschpegel. Dazwischen ein Land, das beides gleichzeitig kann.

Die Feier in der Metropole

Nach dem Feuerwerk beginnt die Stadt, sich neu zu sortieren. Nicht in Richtung Ruhe, eher in Richtung anderer Schwerkraft. Die erste Welle – Familien, die pünktlich zur Mitternacht am Fluss sein wollten – rollt ab, die zweite – Gruppen, die nach Musik suchen – schiebt nach. Die Lichter der Bühnen sind gedimmt, aber die Stadt ist noch immer hell, von tausend fremden Quellen. Wer jetzt über den Nguyen Hue Boulevard hinunter Richtung Saigon River geht, spürt, wie aus dem gemeinsamen Spektakel viele kleine Feste werden. Ein Geräuschteppich, unterteilt in Parzellen von Bass und Stimmen.

Links vom Boulevard, in einer schmalen Querstraße, hat jemand zwei Truss-Stative aufgestellt, daran eine Lichtleiste montiert, darunter eine improvisierte Tanzfläche markiert, zwei Absperrbänder, die nicht viel absperren. Eine Gruppe junger Männer in weißen T-Shirts probiert synchrone Bewegungen, die Arme wie Scheren, der Rhythmus stimmt ungefähr. Daneben zwei Frauen mit Glitzerjacken, die lachen, weil ein Schritt partout nicht funktionieren will. „Noch mal, von vorn“, sagt eine. „Nur die Hände.“ Ein Kind im Schlafanzug, dem man ein Paillettenoberteil übergezogen hat, imitiert die Erwachsenen mit einer Ernsthaftigkeit, die man nur um diese Uhrzeit sieht.

Ein paar Häuser weiter schiebt ein älterer Mann ein fahrbares Grillgestell. Es riecht nach Fleisch und Honig. Er trägt Plastik-Handschuhe, die zu groß sind, und wendet Fleischstücke mit einer langen Zange. „Nur heute so spät“, sagt er, „morgen normal. Aber heute…“ Er macht eine kreisende Handbewegung, die alles meint: die Menschen, die Musik, die Nacht, das Geld. Eine Frau neben ihm verkauft Dosenbier aus einer Styroporbox. Sie zählt die Scheine in einer Plastiktüte, nicht viel, nicht wenig, summt eine Melodie, die von irgendeiner Bühne herüberweht.

Vor dem Opernhaus sitzen Menschen auf den Stufen, in losen Reihen. Eine Gruppe Expats hat sich an die Seitenmauer gelehnt, redet Englisch, lacht laut, einer macht Witze über sein nasses Hemd. „Es ist nicht der Regen“, sagt er, „es ist die Luft.“ Neben ihnen ein Paar aus dem Norden, das die Stadt besucht. Sie halten die Hände ineinander, sagen wenig, sehen zu. „Schön“, sagt die Frau, als ein Song mit zu viel Schlagzeug losgeht. Es ist kein Urteil, eher eine Feststellung darüber, dass etwas gerade passiert, ohne dass es für sie gemacht wäre.

Am Flussufer die weiterlaufende Prozession der Post-Mitternacht. Man sieht Gesichter, die vor Bässen glänzen, die feucht sind von Hitze, von der Nähe der anderen. Ein Junge trägt in einer Hand eine Leuchtfackel, in der anderen einen Luftballon mit der Aufschrift „2026“. Er sieht aus, als wüsste er, dass die Kombination nicht lange hält. Ein Polizist macht eine Geste, die sagt: Nicht hier. Der Junge dreht sich, findet eine Lücke, verschwindet, taucht drei Meter weiter wieder auf, die Fackel noch brennend, der Ballon erstaunlich unversehrt.

Gegen eins verlagert sich die Aufmerksamkeit in die Höhe. Rooftop-Bars, die ohnehin gut gefüllt waren, ziehen jetzt die Nachzügler an. Im Aufzug eines Hotels an der Dong Khoi Road drückt jemand nacheinander alle Zahlen, als wolle er die Nacht verlängern, indem er sie in Haltestellen aufteilt. In der Bar ein Streifen Wind, den es vorher nicht gab. Von oben wirkt das Feuerwerk, das man verpasst hat, plötzlich unwichtig. Die Stadt breitet sich aus wie eine elektronische Landkarte. Der Fluss ist ein dunkles Band, das glitzert, wenn Boote mit Partylampen vorbeifahren. Auf dem Tisch stehen schmale Gläser, in denen das Eis so schnell schmilzt, dass man an etwas anderes denken will. „Saigon fühlt sich von oben wie Fiktion an“, sagt einer. „Von unten wie Notwendigkeit.“

Unten, in District 4, die Gegenbewegung. Keine Bühne, keine Laser. Straßenlaternen, Hunde, die bellen, wenn Mopeds zu nah kommen. Eine Familie sitzt vor einem Haus auf niedrigen Plastikstühlen. Der Fernseher drinnen zeigt Bilder vom Boulevard, die hier niemand braucht. „Wir gehen nicht hin“, sagt der Großvater, „zu voll.“ Stattdessen reicht er die Tassen. Tee, kein Bier. Ein Junge zeigt auf sein neues T-Shirt: „Happy New Year“ in gelbem Druck. Er sagt es phonetisch, ohne den Satz zu besitzen. Die Großmutter legt ihre Hand auf seinen Kopf. Der Reporter notiert diese Hand, wie sie im Neon der kleinen Ladenfront fast durchsichtig wirkt.

Zur selben Zeit, in District 7, in den Wohnkomplexen der neuen Mittelklasse, wehen Girlanden über Innenhöfen. Sicherheitskräfte lächeln professionell. Spielplätze sind beleuchtet, nicht leer. Ein Vater lernt mit seiner Tochter, wie man Wunderkerzen hält, ohne sich die Finger zu verbrennen. „Langsam“, sagt er, „nicht fuchteln.“ Die Tochter nickt sehr ernst, als hätte sie gerade eine neue Kompetenz erworben. Auf dem Balkon gegenüber hängt eine Lichterkette in warmem Weiß, selten in dieser Stadt, die kalt leuchtet. Im Hintergrund die Silhouette der neu gebauten Türme, die sich selbst genug sind.

Ein Taxi in District 1: Die Fahrerin, Mitte dreißig, trocken im Ton, erzählt, dass Silvester ihr guter Tag ist. „Niemand will früh schlafen“, sagt sie, „niemand ist pünktlich, alle zahlen bar.“ Sie lacht nicht, sie zählt. „Ich mache die Nacht durch, dann zwei Tage Pause.“ Auf dem Beifahrersitz eine Thermosflasche, die sie alle paar Minuten ansetzt. Der Reporter fragt, ob sie das Feuerwerk gesehen hat. „Im Spiegel“, sagt sie und zeigt kurz auf den Rückspiegel. Darin flackert kurz das Licht einer Reklame. „Reicht.“

An der Ecke Le Lai / Pham Ngu Lao – die Touristenstraße – sitzt ein Straßenfriseur auf einem Plastikstuhl und raucht. Sein Stuhl ist eigentlich sein Salon. Neben ihm eine kleine Kiste mit Scheren, Kamm, Spiegel. „Heute schneide ich niemandem die Haare“, sagt er, „außer jemandem, der etwas loswerden will.“ Er grinst. Dann kommt ein junger Mann, der genau das möchte. „Nur die Spitzen“, sagt er. „Das Alte ab.“ Der Friseur arbeitet konzentriert, bewegt die Schere in ruhigen, kleinen Bögen. Als er fertig ist, pustet er Haare von den Schultern, die der Wind gleich verteilt. Der junge Mann zahlt und geht. Der Friseur steckt das Geld in die Brusttasche, legt die Schere zurecht, als lege er eine Nacht zur Seite.

Vor einer Bäckerei, die „Paris“ im Namen trägt, stehen Menschen Schlange. Nicht wegen der Croissants, wegen der Klimaanlage. Drinnen beschlägt die Tür. Die Verkäuferin, eine junge Frau mit einer sorgfältig gesteckten Frisur, reicht mit geübter Bewegung kleine Papiertüten über den Tresen. „Nur heute Nacht offen“, sagt sie, „morgen wieder normal.“ „Was ist normal?“, fragt jemand. „Wenn es nicht vibriert“, sagt sie, „wenn man die Uhr hört.“

Gegen zwei Uhr morgens beginnt die Stadt, kleine Pausen zu setzen. Es ist nicht weniger los, nur zäher. Die Mopeds fahren in Schleifen, als seien sie an unsichtbare Fäden gebunden, die an bestimmten Ecken festgemacht sind. Vor einem Laden für Handyhüllen steht ein provisorischer Tisch, auf dem Dutzende der gleichen Hüllen liegen, bunt in ihren Tönen. Ein junger Mann hält sein Telefon daneben, schaut, vergleicht, kauft nicht, geht wieder. Zwei Polizisten lehnen an einer Mauer, sprechen leise, sehen nicht unfreundlich aus. Ein Hund schläft auf einem warmen Gullydeckel, der nach Eisen riecht.

Im Schatten eines Brückenpfeilers hocken drei Arbeiter und essen aus Plastikschalen. Reis, Schweinefleisch, Gurke. „Wir haben bis elf gearbeitet“, sagt einer, „dann hören hier alle auf und gehen gucken.“ Er zeigt in Richtung Fluss. „Wir hatten noch Schrauben offen, aber die haben wir morgen auch noch.“ Der Satz klingt wie eine Parole gegen den Perfektionismus und für die Stadt. Es ist eine Wahrheit von unten: Saigon bleibt stehen, wenn es will, und läuft, wenn es muss.

In einer Seitenstraße sitzt eine Gruppe junger Frauen im Kreis auf dem Asphalt. In der Mitte steht ein Lautsprecher, klein, dafür laut. Eine singt, die anderen klatschen. Ein Mann mit einem Blechschälchen sammelt Münzen. „Für die Sängerin“, sagt er, „nicht für mich.“ Er lächelt schief, und die Geste sagt: Natürlich ein bisschen auch für mich. Die Sängerin trifft nicht jeden Ton, aber es ist ihr egal. Ein kleines Publikum bleibt stehen, hört zu, bewegt sich dann weiter wie Wasser, das irgendwo anstößt und trotzdem fließt.

In einer Notaufnahme eines Bezirkskrankenhauses laufen Neonröhren. Ein Pfleger zieht eine Trage, ein Arzt hält einen Becher Kaffee. „Silvester ist nicht schlimmer als Samstag“, sagt die Ärztin, die gerade einen Schnitt näht. „Nur lauter draußen.“ Durch das offene Fenster dringen Schnipsel Musik herein, die Klimaanlage summt. Auf dem Gang sitzt ein Mann mit bandagiertem Knöchel. Er zeigt nach oben: „Feuerwerk“, sagt er, „die Treppe, nicht die Raketen.“ Die Ärztin nickt. „Passiert.“ Sie lacht kurz, nicht höhnisch. Dann macht sie die Naht fertig.

Gegen drei Uhr bilden sich die ersten Leerräume. Straßen, die eben noch blockiert waren, zeigen Asphalt. Eine Kette von Mopeds bewegt sich wie ein Lichtwurm Richtung Westen; hintenauf sitzen junge Paare, die Köpfe nahe. Ein Verkäufer, der Luftballons an Stäbe gebunden hat, löst einen und lässt ihn steigen. Er schaut ihm nach, bis er kleiner wird, dann packt er zusammen. Seine Hände sind schwarz von Staub. Er wischt sie an der Hose ab. „Gutes Jahr“, sagt er zu niemandem. Es klingt nicht wie ein Wunsch, eher wie eine Aufgabe.

Die Bars schließen nicht. Sie werden leerer, die Musik bleibt. In einer Bar in der De Tham Street zählt ein Barkeeper die Scheine, glättet sie, stapelt sie in einer Kiste, schaut immer wieder zur Tür. „Noch zwei Stunden“, sagt er. „Dann schließen wir. Dann schlafen wir. Dann wischen wir. Dann wieder auf.“ Der Reporter schreibt es auf, weil es die Logik dieser Stadt auf den Punkt bringt: Nichts ist abgeschlossen, alles ist Teil eines Kreislaufs.

In einem Apartment in District 2 sitzt eine Familie auf dem Boden, der Tisch ist niedrig, die Teller sind leer. Ein Onkel hat Reiswein gebracht, die Flasche ist halbvoll. Auf dem Bildschirm läuft ein Video vom Feuerwerk, das der Sohn mit einem zu schnellen Zoom gefilmt hat. „Schön“, sagt die Großmutter, „aber zu laut.“ Der Sohn lacht. „Laut ist schön.“ Die Mutter räumt Teller, die Schwester scrollt auf dem Handy, der Vater öffnet das Fenster, die Luft ist noch immer warm. Von draußen kommt das Heulen eines Mopeds, das klingt, als würde es gleich abheben. Es bleibt auf der Straße.

Um kurz vor vier knistert die Luft anders. Das ist der Moment, in dem die Stadt beginnt, ihre Nacht wieder einzusammeln. Reinigungsteams fahren auf, die Schaufeln klacken, die Besen schneiden Streifen in den Staub. Auf dem Boulevard, der vor wenigen Stunden noch bebte, laufen Männer und Frauen in reflektierenden Westen in einem Tempo, das an Tagesarbeit erinnert. Sie tragen Handschuhe, die an der Innenseite schwarz sind. Niemand klagt, niemand kommentiert. Sie tun, was getan werden muss. Hinter ihnen liegt die Nacht in Resten: Konfetti, Plastikbänder, aufgerissene Pappschilder, die einmal Zahlen waren und jetzt keine Bedeutung mehr haben.

Ein letzter Blick zum Fluss: Die Oberfläche ist glatt, als wäre nichts hineingefallen. Ein Boot mit zwei Männern fährt langsam den Uferstreifen entlang. Sie haben Haken an langen Stielen, ziehen Dinge aus dem Wasser, die nicht hineingehören. „Jedes Jahr“, sagt der eine, „gleich.“ Der andere nickt und deutet mit dem Kinn auf die Skyline. „Aber immer mehr Licht“, sagt er. Beide lachen kurz, nicht ironisch. Sie arbeiten weiter.

Die Feier in der Metropole endet nicht, sie tröpfelt aus. Sie wird zu Alltag. In Saigon ist das vielleicht die größte Gemeinsamkeit aller Feste: Sie sind Zwischenzustände, nicht Ausnahmezustände. Die Stadt kehrt nicht zurück. Sie wandelt weiter. Und wer in dieser Nacht unterwegs war, trägt am Morgen den Geschmack davon auf der Zunge: Zuckerrohr, Staub, Salz der Haut, ein Rest von Rauch. Genug, um zu wissen, dass etwas stattgefunden hat, das nicht im Kalender steht.

Historische und gesellschaftliche Einordnung

Man kann die Silvesternacht in Saigon ohne Geschichte beschreiben, aber es wäre ein partielles Bild. Die Formen – Bühne, Feuerwerk, Selfie, Lärm – sind neu, das Bedürfnis dahinter ist alt. Es verweist auf eine Stadt, die seit anderthalb Jahrhunderten damit beschäftigt ist, Moderne zu verhandeln: anzunehmen, abzulehnen, anzupassen. Deshalb sieht das westliche Neujahr hier nie wie ein importierter Gegenstand aus, sondern wie etwas, das auf lokaler Grammatik spielt.

Die französische Kolonialzeit brachte dem Süden die Architektur einer Ordnung, die nicht die seine war. Boulevards, Verwaltung, eine Idee vom öffentlichen Raum, der gestaltet und kontrolliert ist. Rue Catinat – die heutige Dong Khoi – war die Bühne dieser Ordnung. Man flanierte, man trug Hüte, man war gesehen. Silvester war damals ein gesellschaftlicher Akt der Kolonie, gebunden an Orte, an denen Ventilatoren rotierten und Champagner schwitzte. Das Volk schaute zu. Man sah das Licht, aber man gehörte nicht dazu.

Die Amerikaner veränderten den Ton. In den 1960ern und frühen 1970ern war Saigon ein Scharnier. Auf den Dächern – Rex, Caravelle – feierte man, als sei Feier ein Gegenmittel. Musik, Eis, kalte Luft aus Maschinen. Unten rollten Konvois. Die Stadt trug zwei Realitäten übereinander: die der Party und die des Kriegs. Es war keine Lüge, eher ein Parallelismus. Silvester damals war Flucht nach oben. Man wollte nicht nur ins neue Jahr, man wollte für Stunden aus der Schwerkraft.

1975, Fall der Stadt. Neue Fahnen, neue Sprache, neue Schilder. Die Feste verschwanden nicht, aber sie wurden anders. Privater. Vorsichtiger. Man feierte im Wohnzimmer, nicht auf der Straße. Der Staat misstraute dem Lärm, der nicht von ihm organisiert war. In den Jahren der Subventionswirtschaft – bao cp – hatte Freizeit keinen guten Klang. Zeit war funktional, nicht dekorativ. Wenn gefeiert wurde, dann zu Anlässen, die offiziell gedeckt waren: Nationalfeiertag, Arbeitskollektive, Paraden. Das westliche Neujahr war ein Datum ohne Nutzen.

Die Öffnung – Đi Mi – lässt sich auf den Kalender schreiben, sie lässt sich aber besser an der Straße ablesen. Plötzlich gab es wieder private Geschäfte, kleine Händler, Märkte, auf denen Dinge auftauchten, die vorher nicht da sein durften. Licht zum Kaufen. Lautsprecher. Batterien. Später LED, digitaler Druck. Mit dem Konsum kehrten die Rituale des Konsums zurück. Das westliche Silvester wurde praktisch. Es ließ sich verkaufen, ohne dass es etwas verlangte, außer Aufmerksamkeit. Der Staat musste sich dazu nicht verhalten. Er ließ es geschehen. Eine kluge Entscheidung im Sinne der sozialen Temperatur.

Seit den 2000er-Jahren hat sich diese Pragmatik professionalisiert. Silvester ist heute ein gemanagtes Ereignis. Es gibt Genehmigungen, Absperrungen, Sponsoren, Sicherheitspläne. Die Bühne auf dem Boulevard ist nicht politisch, aber sie ist organisiert. Das Feuerwerk ist nicht willkürlich, es ist berechnet. Die Polizei zeigt Präsenz, deeskalierend, nicht martialisch. Ein modernes Management des öffentlichen Raums. Die Botschaft: Wir sind offen, wir sind sicher, wir sind freundlich. Das richtet sich nach außen – Tourismus, Investoren – und nach innen – Mittelschicht, Jugend.

Die Mittelschicht ist der heimliche Motor dieser Nacht. Sie ist in Saigon sichtbar, hörbar, zahlfähig. Und Sie kauft die Lichterketten, die Getränke, die Tickets für die Rooftops, die neuen Schuhe, die gut aussehen und für diese Nacht unbequem sein dürfen. Sie treibt das Bedürfnis nach sichtbarer Gegenwart. „Wir sind jetzt da“ – das ist die subtile Aussage, die sich in Selfies und Gruppenfotos übersetzt. Es ist nicht Narzissmus. Es ist ein berechtigtes Verfahren, Zugehörigkeit zu dokumentieren, nachdem die Elterngeneration Jahrzehnte in Knappheit verbracht hat.

Gleichzeitig laufen soziale Linien durch diese Nacht, die man nicht übersehen sollte. Während in District 1 die Drinks in langen Gläsern klirren, stapeln in District 8 Menschen Kartons mit Plastikspielzeug, das morgen wieder auf den Bürgersteig kommt. Während auf dem Boulevard junge Leute das Jahr zählen, zählen auf der anderen Seite des Flusses Arbeiter Überstunden. Die Stadt kennt beide Bewegungen und wertet sie nicht aus. Sie macht sie möglich. Das ist ihre Stärke und ihre Bruchlinie.

Silvester fungiert hier als Indikator. Wieviel Lärm erlaubt eine Stadt? Welches Maß an Sichtbarkeit gesteht ein Staat zu? Und wieviel Konsum verträgt eine Gesellschaft, ohne zynisch zu werden? In Saigon liegen die Antworten derzeit in einem Gleichgewicht, das erstaunlich stabil wirkt. Die Behörden lassen laufen, solange es nicht politisch wird. Die Menschen feiern, solange es nicht gefährlich wird. Marken investieren, solange sich die Investition in Bilder übersetzt. Ein Dreieck aus Toleranz, Vorsicht und Nutzen.

Historisch betrachtet, ist das neu. Die Kolonialmacht organisierte den Raum von oben, die Revolution von innen, die Planwirtschaft von vorn. Die Gegenwart managt ihn seitlich. Niemand behauptet, die Nacht zu besitzen. Jeder hat ein Stück. Die Stadt als geteilte Bühne. Das erklärt, warum Silvester nicht eskaliert. Es ist sozial codiert als Abend für alle. Keine Exzesse, wenige Grenzüberschreitungen, kaum Polizeiinterventionen, dafür viel informelle Selbstregulierung. Eine konfuzianische Form des Feierns: Freiheit innerhalb des Rahmens.

Die kulturelle Tiefenschicht – Ahnenkult, Familienbindung, Respekt vor Älteren – bleibt spürbar, selbst wenn die Musik laut ist. Man stößt auf der Straße mit Plastikbechern an und sendet der Großmutter per Videoanruf ein „Chúc mừng năm mới“, auch wenn das „năm mới“ – das neue Jahr – streng genommen erst später beginnt. Man überträgt Rituale über Medien. Das Telefon ist der neue Hausaltar für die in der Stadt Lebenden, die gerade nicht heimfahren. „Wir sehen uns zu Tết“, sagen viele in dieser Nacht. Ein Versprechen, das Silvester mit dem Mondjahr verbindet.

Die Religion spielt in dieser Nacht keine sichtbare Rolle, aber sie ist nicht abwesend. Buddhistische Pagoden bleiben geöffnet, manche Menschen gehen vor Mitternacht hinein, um eine Kerze anzuzünden, dann weiter zum Fluss. Kirchen halten am 31. Dezember keine großen Messen ab – das Fest gehört nicht ihnen –, und doch ist die Kathedrale Notre-Dame am Nachmittag ein Ort für Fotos. Man posiert vor roten Ziegeln, nicht vor Altären. Das ist kein Mangel an Respekt, es ist eine andere Grammatik des öffentlichen Raums.

Internationalisierung wirkt als Beschleuniger. Koreanische Popkultur, japanische Konsumästhetik, westliche Markenbilder, chinesische Produktion – die Nacht ist ein Gemisch. Auf den LED-Wänden erscheinen Slogans, die auf Englisch Sinn ergeben und auf Vietnamesisch anders klingen. In den Clubs laufen Beatz aus Berlin neben Hooks aus Seoul. Gleichzeitig hört man auf der Straße altbekannte vietnamesische Balladen, die für Eltern gemacht sind und von deren Refrain die Kinder nur den Sound kennen. Saigon integriert ohne zu verdauen; es lässt Dinge nebeneinander stehen.

Wenn man die Nacht als gesellschaftlichen Spiegel liest, fallen drei Linien ins Auge. Erstens: Urbanisierung. Saigon wächst, in Fläche, Höhe, Zahl. Menschen aus dem Mekong-Delta, aus dem Zentralhochland, aus dem Norden ziehen hierher. Sie bringen ihre Feste mit und passen sie an. Silvester wird zum urbanen Initiationsritus: Wer neu ist, geht hin, weil dort Stadt passiert. Zweitens: Mittelklassebildung. Einkommen steigen, Ansprüche auch. Man will teilhaben an etwas, das nicht Notwendigkeit ist. Drittens: digitale Öffentlichkeit. Wer nicht dabei ist, kann dabei sein, indem er scrollt. Und wer dabei ist, sendet. So entsteht ein zweiter, paralleler Raum: die Nacht im Netz.

Konflikte? Sie sind leise. Die Anwohner, die jede Woche eine Bühne vor der Tür haben, verdrehen die Augen, aber sie rufen nicht an. Die Händler, die keine Genehmigungen bekommen, weichen in Nebenstraßen aus, ohne zu kämpfen. Die Jugendlichen, die zu laut sind, werden mit einem Blick leiser. Die Polizei weiß, wann ein Handsignal reicht. Es ist ein System der kleinen Korrekturen. Nicht ideal, aber funktional. Saigon hat keine Zeit für große Debatten über Lärm. Die Stadt rechnet in Nutzen und in Schlaf.

Die Vergangenheit bleibt als Bodensatz. Im Continental-Hotel hängen Fotos aus der Kolonialzeit, im Rex die Relikte amerikanischer Jahre. Touristen betrachten sie, während draußen der Boulevard im Bass pulst. „Damals“, sagt ein älterer Mann, der die 1970er erlebt hat, „war es eine Lüge.“ Er meint die Rooftop-Partys über einem Krieg. „Heute ist es Wahrheit“, sagt er, „weil niemand so tut, als wäre es mehr als es ist: eine Nacht.“ Es ist eine lakonische Diagnose. Sie passt.

Politisch ist das Fest unverdächtig. Niemand hält Reden, niemand ruft Parolen. Die Botschaft ist implizit: Vietnam ist normal. Eine Stadt, die Feuerwerk sieht, ist eine Stadt, die sich nicht versteckt. Eine Stadt, in der sich Menschen drängen, ist eine Stadt, die an sich glaubt. Der Staat versteht das, die Menschen auch. Man braucht keine Worte dafür. Bilder reichen.

Ökonomisch ist die Nacht relevant. Sie kurbelt Gastronomie an, Handel, Transport. Sie gibt Anlass, Dinge zu kaufen, die man nicht braucht. Sie verteilt Arbeit in Richtungen, die selten gesehen werden: Reinigung, Sicherheit, Logistik. Der Lohn ist niedrig, die Nachtschicht lang. Und doch sagen viele, die in dieser Nacht arbeiten, dass sie gern arbeiten. „Es ist schön, wenn eine Stadt lebt“, sagt ein Mann im orangefarbenen Overall, der auf dem Boulevard kehrt. „Dann fühlt man sich nicht allein.“ Der Reporter schreibt den Satz auf, weil er – außerhalb aller Bilanzen – erklärt, warum Feste öffentliche Güter sind.

In der langen Perspektive lässt sich Silvester in Saigon als Hybridisierung beschreiben. Ein westliches Datum, ostasiatisch verwaltet, südvietnamesisch gelebt. Kein Ersatz für Tết, keine Konkurrenz, kein Fremdkörper. Eine Ergänzung. Ein Aufwärmen. Eine Übung im Zusammenkommen, ohne alte Regeln zu stören. Dass das funktioniert, liegt an der Elastizität dieser Stadt. Saigon ist ein System, das Vieles zugleich kann: handeln, erinnern, hoffen, lachen, arbeiten. Es ist nie nur eins.

Der Reporter steht zum Schluss dieses Abschnitts noch einmal am Fluss, diesmal am späten Vormittag des nächsten Tages. Die Luft ist klarer, die Schiffe fahren langsamer, als seien auch sie müde. Die Bühne auf dem Boulevard ist abgebaut, der Platz wirkt größer, als er es nachts tat. Ein Mann sitzt auf einer Stufe, isst Reis aus einer Box, schaut auf das Wasser, das nichts verrät. Wenn man ihn fragt, wie die Nacht war, sagt er: „Wie immer. Anders.“ In Saigon ist das kein Widerspruch. Es ist eine Beschreibung der Bewegung.

Zwischen Feier und Familie

Am Morgen nach der langen Nacht riecht die Stadt nach Seife und Staub. Wasser läuft über Gehwege, die Arbeiter reinigen, Mopeds fahren wieder in ihrer gewohnten, zähen Logik. Wer früh aufsteht, erkennt kaum, dass hier vor Stunden noch eine Million Menschen gestanden haben. Saigon kann Spuren verwischen. Sie ist eine Stadt, die den Tag schnell zurückholt.

In den Cafés sitzen Männer mit Zeitung, Frauen mit Milchkaffee, niemand redet über das Feuerwerk. „Zu viel Rauch“, sagt einer beiläufig, „aber schön.“ Das war’s. Der Rest wird vergessen, weil Alltag nicht sentimental ist. Und doch bleibt etwas in der Luft, ein Nachklang, wie ein zu früh verstummter Akkord.

Viele, die in der Nacht auf der Straße waren, sind am nächsten Tag in der Familie. Nicht alle wohnen zusammen. Die Stadt ist groß, und viele stammen von anderswo – aus dem Delta, aus dem Norden, aus Orten, die sechs Stunden Busfahrt entfernt sind. Trotzdem sitzt man jetzt gemeinsam am Tisch, vielleicht erst am Nachmittag, vielleicht mit verkatertem Lächeln. Man isst Reissuppe, lacht über die Fotos der Nacht, sagt, dass man nächstes Jahr früher hingehen müsse, obwohl man weiß, dass man es wieder nicht tun wird.

„Zweimal Neujahr“, sagt eine Mutter, die ihre Tochter zur Arbeit verabschiedet, „einmal für die Stadt, einmal für uns.“ Es ist kein Vorwurf, nur eine Ordnung. Silvester gehört den Jungen, Tết gehört allen.

Das westliche Neujahr in Saigon ist ein öffentlicher Raum, Tết ein privater. Die Stadt feiert sich selbst, die Familie bewahrt das Gedächtnis. Wer am 31. Dezember schreit, flüstert im Januar. Wer auf der Straße tanzt, sitzt einen Monat später auf dem Boden vor dem Ahnenaltar. Beides ist wahr.

In einem Hinterhof in District 10 hängt Wäsche zwischen den Mauern, darunter ein Tisch mit vier Stühlen. Eine Familie isst Frühstück: Reis, Eier, Gurken, Sojasauce. Der Vater trägt ein Hemd mit westlichem Muster, die Großmutter einen schwarzen Pyjama, wie ihn Frauen auf dem Land tragen. Auf dem Fernseher läuft eine Wiederholung der Feuerwerkssendung. Der Ton ist leise. „Zu jung für mich“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Der Enkel antwortet: „Aber schön, dass sie alle zusammen sind.“ Sie nickt. „Solange sie zusammen sind.“

Das ist die Brücke zwischen beiden Festen: das Bedürfnis, zusammen zu sein, auch wenn der Anlass wechselt. Es ist eine Verbindung, die älter ist als Kolonialismus oder Kapitalismus.

Saigon ist jung. Sie altert schnell und regeneriert schneller. Aber ihre Struktur bleibt familial. Man teilt, man ruft an, man kehrt zurück. Ein Soziologe an der Universität Ho-Chi-Minh-Stadt sagt: „Die Familie ist der kleinste Staat Vietnams. Sie reguliert, kontrolliert, schützt und vergibt.“ Selbst in der urbanen Moderne gilt das. Das westliche Silvester darf laut sein, weil Tết leise bleibt. Die Balance funktioniert.

Auf dem Land ist es anders. In der Provinz feiern viele das westliche Neujahr kaum. Es ist ein Datum, das keine Ernte, keine Jahreszeit markiert. Es hat keinen Geruch. Aber die Bilder aus Saigon, die über Fernseher und Handys in alle Richtungen strömen, wirken. Jugendliche in Dörfern tanzen zu denselben Songs, tragen dieselben Brillen mit blinkenden Zahlen. Es dauert nur ein paar Jahre, bis ein globales Ritual auch in die Reisfelder sickert.

Doch in der Stadt selbst sind die Übergänge fließender. Viele Eltern haben sich an die zweite Feier gewöhnt. Sie schimpfen über Lärm und Selfies, aber sie lächeln, wenn sie sehen, dass ihre Kinder das Leben mögen. Eine Verkäuferin in einem Stoffladen sagt: „Ich mag Silvester, weil meine Tochter mir danach immer schreibt, dass sie mich liebt.“ Dann lacht sie. „Sonst schreibt sie nicht.“

Der Reporter sitzt am nächsten Tag in einem Friseursalon. Der Fernseher läuft, Nachrichten, dann Werbung, dann ein Musikvideo. Eine junge Frau mit blond gefärbtem Haar erzählt, sie habe die Nacht gearbeitet. „Wir hatten viele Kunden,“ sagt sie, „alle wollten gut aussehen fürs neue Jahr.“ Sie meint den 31. Dezember. Dann fügt sie hinzu: „Aber richtig sauber machen wir uns erst zu Tết.“ Sie deutet auf ihr Haar. „Dann wieder schwarz.“

Das westliche Neujahr ist Kosmetik, Tết ist Pflege. Das eine zeigt sich, das andere bleibt.

Am Nachmittag fährt der Reporter mit einem Stadtbus Richtung Cholon, das alte chinesische Viertel. Hier riecht die Luft nach Räucherwerk, auch an gewöhnlichen Tagen. Händler räumen Stände um, als bereiteten sie schon das nächste Fest vor. Tết ist nicht weit. Auf den Marktständen liegen rote Umschläge, goldene Papierschweine, Glückssymbole. Zwischen Plastikdekoration und echten Mandarinenblättern mischen sich die Reste von gestern: silberne Luftschlangen, leere Bierdosen. „Wir feiern doppelt“, sagt eine Händlerin, „aber wir verkaufen immer.“

Sie erzählt, dass sie früher nie auf die Straße gegangen sei, wenn die Jungen im Zentrum tanzten. „Jetzt gehe ich hin und verkaufe Wasser.“ Sie lacht. „Ich mache das Fest mit.“

Der Reporter fragt, ob sie auch Tết liebt. Sie nickt. „Aber Tết ist Arbeit. Vorher putzen, danach kochen. Silvester ist Spiel. Ich bin alt genug für beides.“

So einfach ist die Grenze oft nicht. Zwischen Feier und Familie steht ein neues Selbstverständnis. Vietnamesen, vor allem in Saigon, wollen beides: den Lärm und die Ruhe, das Moderne und das Vertraute. In einem Land, das jahrzehntelang gezwungen war, sich zwischen Systemen zu entscheiden, ist das kein Widerspruch, sondern Reife.

Am Abend, 1. Januar, füllt sich der Boulevard wieder – nicht so dicht wie am Vortag, aber genug, um das Prinzip zu erkennen. Einige tragen T-Shirts mit der Aufschrift „New Year – Again“. Ironie, vielleicht Zufall. Ein Straßenmusiker spielt auf einer Geige, sein Instrument verstimmt, aber die Melodie erkennbar. Auld Lang Syne, die Melancholie eines Liedes, das von Erinnerung spricht. Menschen bleiben stehen, hören zu, applaudieren kurz, gehen weiter.

In einer Seitenstraße zündet ein Mann vor seinem kleinen Restaurant Räucherstäbchen an. Drei, wie es Brauch ist. Er beugt den Kopf, murmelt etwas, das wie ein Gebet klingt. Seine Frau stellt einen Teller mit Früchten dazu. Die Tochter hängt ein neues Schild auf: „Closed 1 Week for Tết Preparation“. Das westliche Neujahr hat den Platz geräumt. Das echte rückt näher.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass beides koexistiert – weil es darf. Der Staat lässt die Feste parallel laufen, das Volk hält sie auseinander, aber nicht gegeneinander. Es ist eine Ordnung, die durch Gewohnheit stabil bleibt, nicht durch Ideologie.

Saigon hat keine Angst vor doppelter Zeit. Die Menschen hier wissen, dass man sich in der Gegenwart nicht verliert, wenn man sie laut feiert. Man verliert sich erst, wenn man vergisst, wohin man danach geht.


Ausblick

Zwei Wochen später. Die Stadt ist anders. Der Countdown ist vergessen, das Feuerwerk verpufft, die Bühnen abgebaut. Überall hängen rote Banner: Chúc Mng Năm Mi. Glückwünsche zum Mondneujahr. Händler fegen vor ihren Türen, Motorroller tragen Blumentöpfe, auf denen gelbe Ochna-Blüten wippen. Die Luft riecht nach Mandarinen, nach Lack, nach Räucherwerk. Dieselbe Stadt, anderes Tempo.

Der Reporter geht denselben Weg wie in der Silvesternacht, diesmal am Nachmittag. Der Boulevard ist still. Wo vorher Lautsprecher dröhnten, stehen Gerüste mit Lampions. Auf dem Asphalt liegen Farbreste in Neonpink, Spuren von Klebeband. Ein Straßenarbeiter kratzt sie mit einem Messer ab. „Altes Jahr weg,“ sagt er. Er meint die Farbe, vielleicht auch mehr.

Der westliche Jahreswechsel hat keine religiöse Tiefe, aber er hat Wirkung. Er ist ein Ventil, ein Spiegel. Er zeigt, wie Vietnam seine Moderne lebt: laut, kontrolliert, kollektiv. Tết zeigt, wie es seine Tradition bewahrt: leise, verbindlich, familiär. Zwischen beiden liegt kein Konflikt, sondern Kontinuität.

Die ältere Generation nennt das pragmatisch. Die Jüngere nennt es normal. „Zwei Kalender, zwei Leben,“ sagt ein Student. „Wir brauchen beide.“ Er sitzt in einem Café mit Blick auf den Fluss, Laptop geöffnet, Kopfhörer um den Hals. Auf dem Bildschirm blinkt ein englisches Meeting-Programm. „Mein Chef in Singapur will, dass ich an Silvester arbeite,“ sagt er und zuckt die Schultern. „Aber zu Tết bin ich offline. Immer.“

Das neue Vietnam kennt diese Balance. Es ist digital vernetzt, wirtschaftlich verknüpft, aber seine sozialen Rhythmen bleiben eigen. Während andere Städte auf der Welt das Jahr mit Kälte beginnen, beginnt Saigon es mit Wärme – nicht nur klimatisch.

In Gesprächen mit jungen Menschen fällt oft das Wort hybrid. Sie verwenden es für Mode, für Sprache, für Musik. Eine Generation, die zwischen TikTok und Ahnenaltar lebt, die Popkultur konsumiert und am Neujahrstag Räucherstäbchen anzündet. „Wir sind viele Versionen von uns selbst,“ sagt eine Designerin. „Und alle sind echt.“

Das Silvesterfest im Westen hat in Saigon seine tropische Mutation gefunden. Kein Schnee, keine Dunkelheit, keine winterliche Symbolik. Stattdessen Licht, Bewegung, Öffentlichkeit. Ein Fest, das nichts verspricht, aber vieles ermöglicht. Es erlaubt, sich zu zeigen, ohne sich zu erklären. Es ist ein Ritual der Selbstbestätigung in einer Stadt, die sich täglich neu erfindet.

Gleichzeitig steht es im Schatten von Tết. Wenn das Mondjahr kommt, leert sich die Stadt. Busse sind überfüllt, Züge ausverkauft, Straßen leer. Der Lärm von Silvester wird ersetzt durch das Rascheln von Räucherstäbchen und das Klirren von Porzellanschalen. Die Rollen wechseln: was vorher laut war, wird still, was vorher flüchtig war, wird ernst.

Der Reporter besucht am Vorabend des Tết eine Pagode. Menschen tragen Blumen, Obst, Räucherwerk. Sie knien, murmeln Gebete. Draußen hupt jemand, aber leiser als sonst. Eine Frau legt einen Zettel auf den Altar. „Für Gesundheit,“ sagt sie. „Und dass meine Tochter im Ausland glücklich ist.“ Sie lächelt. Vielleicht hat sie in der Silvesternacht eine Videobotschaft bekommen, ein Foto, ein Herz-Emoji. Zwei Zeiten, ein Wunsch.

Diese Gleichzeitigkeit ist das eigentliche Gesicht Vietnams. Der Westen sieht Fortschritt oder Rückstand; die Vietnamesen sehen Übergang. Der Lärm der Moderne ist kein Gegensatz zur Stille der Tradition. Er ist ihr Echo.

In den Wochen nach Silvester ziehen Touristen durch die Stadt, fragen nach dem großen Feuerwerk, nach Partys, nach Rooftops. Die Einheimischen antworten höflich, aber ohne Aufregung. „Das war schon,“ sagen sie. „Das echte kommt noch.“ Sie meinen Tết, aber der Satz funktioniert auch andersherum. In Saigon ist immer etwas schon und gleichzeitig noch.

Abends, am Fluss, liegt das Wasser ruhig. Männer angeln, Kinder fahren Fahrrad. Ein alter Lautsprecher auf einem Boot spielt ein Lied aus den 1970ern. Die Stadt klingt wieder wie Alltag. Aber unter dieser Oberfläche, in den Neonröhren, in den Lautsprechern, in den Lichtern über den Straßen, schläft der nächste Jahreswechsel schon.

Die Geschichte Vietnams war selten geradlinig. Sie verlief in Bögen, Brüchen, Rückzügen, Sprüngen. Vielleicht deshalb feiert man hier doppelt: um sicherzugehen, dass wenigstens eine der beiden Zählweisen Glück bringt.

Der Reporter notiert zum Schluss: Silvester in Saigon ist kein westlicher Export, kein exotisches Spektakel. Es ist ein Prüfstein. Eine Nacht, in der die Stadt zeigt, dass sie beides kann – global und eigen sein. Dass sie das Lärmende nicht fürchtet, weil sie die Stille kennt.

Wenn der Rauch des Feuerwerks verschwindet und die Sonne am ersten Januar über dem Fluss aufgeht, glitzern die Fassaden in einem Licht, das älter ist als jedes Jahr. Männer fegen, Frauen lachen, Mopeds starten. Ein Kind mit einem Luftballon sieht nach oben, hält ihn fest. Vielleicht denkt es, dass ein Jahr wie ein Ballon ist – schön, solange man ihn nicht loslässt.

Der Reporter schreibt den letzten Satz in sein Notizbuch:

Saigon beginnt nicht. Saigon setzt fort.

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